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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Alain Claude Sulzer
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auf, sie saß unter dem Sonnenschirm, ich lag auf einem Liegestuhl in der prallen Sonne. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch mit dem Rücken nach oben, sie war im Begriff, sich die Fingernägel zu färben. Der Schutzumschlag war so rot wie der Nagellack, den sie in gleichmäßigen Bewegungen über ihre Nägel strich und dessen filigraner Acetongeruch angenehm in der Nase kitzelte. Schon als kleiner Junge hatte ich hinter ihrem Rücken oft an dem offenen Fläschchen gerochen, bis mir schwindelig wurde.
    Sie wirkte etwas nervös und war blaß. Dann sagte sie unvermittelt, sie müsse mir etwas Unerfreuliches mitteilen.
    Ich war auf alles mögliche gefaßt, nur nicht auf das. Und so gelang ihr, gegen ihren Willen, eine Überraschung. Sie räusperte sich und sprach von den Sachen meines Vaters.
    »Die Sachen sind verlorengegangen, ich weiß nicht, wie«, sagte sie hastig, wobei sie sich bemühte, betont bekümmert zu klingen.
    Ich wäre auch dann stutzig geworden, wenn sie freiwillig etwas ausführlicher gewesen wäre. Ich merkte, daß sie diese Information loswerden wollte, wahrscheinlich schon seit geraumer Zeit. Sie würde nicht lange darüber sprechen, sie wollte nur, daß ich es wußte. Es war die Beiläufigkeit, mit der sie diesen Verlust erwähnte, die mich aufhorchen ließ. Sie war mir fast verdächtiger als der Ton, in dem sie darüber sprach.
    Ichfragte nach, und sie erzählte mir, daß sie diese Hinterlassenschaft verloren hätte, ich habe beide Worte noch heute im Ohr, »Hinterlassenschaft« und »verloren«. Sie erwähnte nicht wann und nicht wo. Doch ließen ihre Worte keinen Zweifel daran, daß der Verlust endgültig war. Vielleicht hatte sie seine Sachen schon vor Jahren verloren. Jetzt schien es ihr an der Zeit, mir die Wahrheit zu sagen. Sie hätte mir die Existenz dessen, was es nun nicht mehr gab, auch verheimlichen können. Sie war so ehrlich, es nicht zu tun.
    Ich bin sicher, daß ihr meine Fassungslosigkeit nicht entging. Sie hatte aufgehört, das Pinselchen über ihre Nägel zu streichen, und sah mich an. Als sich unsere Blicke trafen, hielt der ihre dem meinen nicht stand. Sie sah auf ihre halbfertig bemalten Nägel und rollte geistesabwesend das Pinselchen zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Daß ich schwieg, war ihr peinlich, ihr fiel aber nicht ein, was sie sagen sollte. Ich hatte meinen Vater nicht gekannt, was sollte ich also vermissen? Wo nichts aus der Vergangenheit spricht, kann sie sich auch nicht melden. Das dachte sie wahrscheinlich. Das hoffte sie vielleicht.
    Das war nun eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen wir über ihn sprachen, doch anders als sonst empfand ich sie als dramatisch, und ihr erging es offenbar genauso. Sonst wäre sie nicht dagesessen, als hätte ich sie bei einer Indiskretion ertappt. Jetzt war klar, daß außer einem Foto und ein paar wertlosen Schnappschüssen nichts von ihm übrigblieb, daß selbst die schriftlichen Spuren seiner Existenz verloren waren, daß es nichts gab, woran ich mich festhalten konnte, wenn ich mir Gedanken über ihn machen wollte.
    Während sie vielleicht gedacht hatte, ich würde mich mit dieser dürftigen Information zufriedengeben, wunderteich mich, wie etwas, was einem anderen wichtig gewesen war, der einem wichtig gewesen war, verlorengehen konnte, ohne daß man es vermißte. Das einzige Problem meiner Mutter hatte offenbar darin bestanden, mir den Verlust zu melden, ihn selbst schien sie spielend zu verkraften. Lag es daran, daß er eine Weile zurücklag? Ich ging nicht so weit, mich zu fragen, ob sie die Sachen in einem unbedachten Augenblick achtlos weggeworfen hatte. Oder besser gesagt, ich schob diesen Gedanken von mir, weil ich ihr genau das unterstellte.
    Meine Mutter war anständig. Sie bemühte sich so sehr darum, ihr Haus sauberzuhalten, daß ihm, wie ich manchmal fand, etwas beinahe Unbelebtes innewohnte, was mir ein bißchen peinlich war, wenn Freunde kamen, die in anderen Verhältnissen lebten, um die ich sie manchmal fast beneidete. Während sie mein Zimmer längst mir selbst überlassen hatte und dieses entsprechend ungepflegt war, sahen die anderen Räume wie Hotelzimmer aus, die auf Gäste warteten. Wie hatte sie, die Ordnungsliebende, etwas so Aufschlußreiches wie den schriftlichen Nachlaß ihres verstorbenen Mannes verlieren können, warum hatte sie die paar verbliebenen Dinge nicht wie ihren Augapfel gehütet, wenn schon nicht ihretwegen, dann meinetwegen? Wie erklärte sich dieser Verlust? Das
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