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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Alain Claude Sulzer
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Unerklärliche erklärt sich nicht, sagte ich mir, aber diese Antwort war altklug und unbefriedigend. Plötzlich kam mir der naheliegende Gedanke, diese Papiere seien ihr von dem Augenblick an nicht mehr wichtig gewesen, als ihr mein Vater nicht mehr wichtig war. Zählten tatsächlich nur noch mein Stiefvater und ich?
    Sie machte mir keinerlei Hoffnung, die Papiere irgendwann wiederzufinden, sie waren weg. Worum hatte es sich dabei gehandelt? Sie überlegte kurz und sagte dann: »Papierkram.«
    »Papierkram?«Seine Geburtsurkunde, sein Paß, sein Führerschein, ich wußte nicht einmal, ob er einen besessen hatte, Schulzeugnisse, Briefe, Tagebücher, ich wußte nicht, was mir entging, ich wußte nicht, was ich vermißte, ich wußte nicht, was man mir weggenommen hatte. Meine Mutter zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nur noch, daß es eine schwarze Mappe war, in die ich vor Ewigkeiten zuletzt hineingeschaut hatte. Ich glaube, sie war rot gefüttert, mit roter Seide. Ich kann mich kaum erinnern.« »Und was war drin?« »Ich kann mich nicht erinnern.«
    Schließlich seufzte sie, aber ihr Seufzen kam mir so unglaubwürdig vor wie der Kummer von vorhin. Was sie mir auch vorzumachen versuchte, der Verlust seiner Sachen ging ihr nicht nah.
    Dinge kommen ständig abhanden, natürlich. Es hatte mehrere Anlässe gegeben, bei denen man Sachen verlieren konnte, zwei Umzüge, von einer Wohnung, an die ich mich nicht erinnere, in eine andere, an die ich mich kaum erinnere, und später in das Haus, das ich stets als mein Elternhaus betrachtet habe, das Haus meiner Mutter und meines Stiefvaters, in dem ich lebte und das ich zwei Jahre später, für niemanden überraschend, verließ.
    Je länger ich in meinem Liegestuhl lag, desto unverständlicher wurde mir das Verhalten meiner Mutter. Es war, als hätte sie tatsächlich ausgesprochen, was ich nur unterstellen konnte, daß ihr die Mappe nicht wichtig gewesen war. Sie hatte gedacht, mein Vater sei mir so gleichgültig wie ihr, ich hatte ihn nicht gekannt, wie konnte ich ihn vermissen? Dabei konnte ich ihr nichts vorwerfen. Weder war ich mit Geschichten über einen beispiellos guten Vater gequält worden, noch hatte ich Grund, eifersüchtig auf Halbgeschwister zu sein, die es nicht gab, oder auf Roland, der sich mir gegenüber loyal verhielt. Daß die Vergangenheit eine Lücke aufwies, war nicht ihre Schuld. Langehatte ich sie gar nicht gespürt. Worüber hätten mir die Papiere meines Vaters Auskunft und Aufschluß gegeben? Sie hatte nie schlecht über ihn gesprochen, sie sprach kaum über ihn.
    Unser Gespräch, das keines war, wurde beendet, als meine Mutter den Nagellack auf den Tisch stellen wollte. Da sie kurzsichtig war, aber meist keine Brille trug, stieß sie mit dem Fläschchen gegen die Tischkante und ließ es fallen. Lautlos kippte es ins Gras, wo sich sein zähflüssiger Inhalt über den grünen Rasen ergoß und einen grellroten Fleck hinterließ, der, zusehends dunkler werdend, noch Wochen später zu erkennen war.

    Ich mußte mich damit abfinden, daß es von meinem Vater kein weiteres Porträt gab. Bei den anderen Fotos, die meine Mutter in einem zerknitterten Umschlag in ihrem Sekretär aufbewahrte, handelte es sich um Schnappschüsse, auf denen er nur undeutlich zu erkennen war. Ich nahm mir vor, auch diese Bilder, die ich bislang bloß flüchtig betrachtet hatte, einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Dazu genügte es, aufzustehen und den Sekretär meiner Mutter zu durchsuchen, der nie abgeschlossen war, ich würde sie finden, doch ich blieb liegen. Das, sagte ich mir, hatte Zeit.
    Doch wenig später stand ich auf, öffnete den Sekretär und stieß bald auf die Bilder.
    Sie waren klein und quadratisch und waren ein Jahr vor meiner Geburt, im Sommer 1953, entstanden. So war es auf der Rückseite des Umschlags vermerkt. Die wenigen Personen auf diesen undatierten Aufnahmen blinzelten in die Sonne, schützten ihre Augen vor der Helligkeit oder waren zu weit von der Kamera entfernt, um mehr als Umrisse abzugeben. Auf diese Weise hatten sie sich fast unkenntlich gemacht. Auf den meisten Bildern war mein Vaterabgebildet, einmal im Sand sitzend allein, einmal mit meiner Mutter, einmal mit einem verwahrlosten Hund, der traurig und rastlos in die Kamera blickte, von der er Zuwendung zu erhoffen schien. Bei den restlichen Fotos handelte es sich um Landschaftsaufnahmen: Heller Strand ohne Menschen. Wasser, Wolken, Sand und Himmel und ein streunender Hund.
    Die matt glänzende
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