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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Autoren: Alain Claude Sulzer
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    I
    Mein Vater starb nur wenige Wochen nach meiner Geburt. Mir blieb nichts als ein Foto. Es gehörte zur Einrichtung wie das Bett und der Tisch, wie Schongauers Maria im Rosenhag, die Gardinen und der Schrank, Dinge, mit denen meine Mutter schon vor Jahren mein Zimmer ausgestattet hatte. Obwohl das gerahmte Porträt meines Vaters schon immer Teil der Einrichtung gewesen war, hatte ich ihm lange keine besondere Aufmerksamkeit mehr geschenkt, bis ich eines Nachmittags während der Herbstferien vor dem Bücherregal stehenblieb und es, zum ersten Mal seit langer Zeit, genauer betrachtete. So genau wie nie zuvor. Ich war siebzehn, es war ein Mittwochnachmittag, es ist lange her.
    Der Mann auf dem Foto, mein Vater, hatte das Kinn leicht auf die schmalen Knöchel der umgeknickten linken Hand gestützt. Vielleicht war es Zufall, daß die Uhr, die er am Handgelenk trug, mein Interesse auf sich zog. Bislang hatte ich sie übersehen. Da das Zifferblatt dem Betrachter zugewandt war, konnte man die Uhrzeit und das Markenzeichen erkennen. Die Zeiger standen auf Viertel nach sieben, es handelte sich unverkennbar um eine Omega. Plötzlich sprang mir ins Auge, was ich bislang übersehen hatte, und ich war irritiert.
    Obwohl die Uhrzeit deutlich zu erkennen war, blieb die Tageszeit ebenso im Dunkeln wie die Umgebung, in der das Bild entstanden war. Die Aufnahme konnte ebensoum sieben Uhr fünfzehn morgens wie um sieben Uhr fünfzehn abends aufgenommen worden sein. Wer hatte sie gemacht?
    Irgendein Fotograf natürlich. Das Foto, das meinen Vater für immer festhielt, war, so mein Eindruck, in einem professionellen Atelier aufgenommen worden, nicht in natürlicher Umgebung, entweder von einem Fotografen oder von einem talentierten Laien, jedenfalls von jemandem, der sein Handwerk verstand. Das würde sich mit Leichtigkeit überprüfen lassen. Es genügte, das Foto aus dem Rahmen zu lösen, den festen Schutzkarton zu entfernen und nach einem Firmenstempel auf der Rückseite des Fotos zu schauen, jedoch erst später, jetzt hielt mich irgend etwas davon ab. Sieben Uhr fünfzehn war weder morgens noch abends die übliche Zeit für einen Termin beim Fotografen, sieben Uhr fünfzehn war in jedem Fall ungewöhnlich.
    Das war kein Gelegenheitsfoto. Ein Schnappschuß in ungezwungener Atmosphäre wäre niemals so gut gelungen, die Aufnahme mußte während einer längeren Sitzung entstanden sein. Gegen ein Amateurfoto sprach auch, daß das Licht nicht zufällig, sondern gezielt auf sein Gesicht gefallen war, das zumindest war mein Eindruck. Es war zur Gänze ausgeleuchtet, wirkte aber weder flächig noch unkonturiert. Jede Härte war mit Geschick vermieden worden, aber auch jede Weichheit. Die Schatten unter den Augen, unter der Nase und der Unterlippe waren fein, eher schraffiert als gezeichnet. Alles war deutlich, aber nicht überdeutlich hervorgehoben, die Nase, der Mund, das Kinn und die Wangen. Die Augen bildeten den Mittelpunkt, die Attraktion des Bildes, und waren mit meinen fast identisch, zumindest die Form und die Helligkeit, etwas Durchdringendes, ein wenig Befremdliches. Sie waren etwas dunkler als meine. Ich sollte vielleicht nachtragen,daß es sich um ein Schwarzweißfoto handelte, es war vor zwei Jahrzehnten in den 50er Jahren entstanden.
    Es zeigte, was es zeigen sollte, und vielleicht noch etwas mehr. Zunächst einmal war darauf ein sehr junger Mann zu erkennen, dessen Gesicht, anders als der Kragen seines Hemds oder der Stil dieser Aufnahme, nicht aus der Mode gekommen war wie andere Gesichter auf anderen alten Fotos, die einem, wenn die Jahre vergangen sind, fast immer unzeitgemäß erscheinen, zeitgemäß im Rahmen ihrer, aber unzeitgemäß im Rahmen unserer Zeit. Bei diesem Foto war es ganz anders. Es klaffte kein unüberwindlicher Abgrund zwischen heute und damals.
    Vielleicht hatte die Aufnahme etwas Bestimmtes bezwecken wollen, weshalb sie den Abgebildeten in ein von ihm gewünschtes Licht zu rücken versuchte. Mir war nicht klar, in welches, aber mir schien diese Möglichkeit nicht allzuweit hergeholt. Allerdings wollte mir nicht einfallen, zu welchem Zweck man solche Fotos brauchte, für welche Bewerbungen sie hilfreich oder gar unerläßlich sein konnten. Die Zeit, in der es entstanden war, kannte ich nur vom Hörensagen.
    Um ein Paßfoto handelte es sich auf keinen Fall. Dagegen sprach nicht nur das ungewohnte Format, sondern auch der regelwidrige Ausschnitt, das aufgestützte Kinn und die Armbanduhr, deren
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