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Zum Nachtisch wilde Früchte

Zum Nachtisch wilde Früchte

Titel: Zum Nachtisch wilde Früchte
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Metern.
    »Leider gibt es noch keine Leiter, die einen Bogen macht«, sagte der Brandmeister, als er zu Dr. Breuninghaus zurückkam. »Unsere Leute können von der Leiter aus nur auf ihn einreden …«
    »Vielleicht mit einem Lasso?« sagte v. Rendshoff. »Das ist die Idee, meine Herren! Mit einem Lasso von der Leiter aus …«
    »Ich werde verrückt!« Dr. Breuninghaus ließ die Gruppe stehen und rannte zu Major Ritter. Der suchte vergeblich Freiwillige, die Boltenstern nachklettern sollten.
    »Schlappschwänze sind sie alle geworden!« schrie Ritter. »Dick und vollgefressen, und die Kraft haben sie in den Betten gelassen! Wenn ich früher sagte: Freiwillige vor … dann trat die ganze Kompanie vor! Jungs, bei Smolensk! Der Einsatz am Brückenkopf! Und jetzt macht ihr euch in die Hosen! Was ist aus euch bloß geworden?! Satte, fette Demokraten! Man sollte euch die EKs von den Anzügen reißen …«
    Es half alles nichts … keiner wollte nachklettern. Sie waren nun Familienväter, hatten ihren Beruf, ihr Geschäft, ihr Häuschen im Grünen, ihr Auto … Wenn ein Verrückter die Achterbahn hochklettert, und wenn's der Hauptmann Boltenstern ist, soll man das alles aufs Spiel setzen? Nee! Die Zeiten ändern sich. Damals, bei Smolensk, da war man ein junger Hüpfer. Ein hirnloses Wesen in grauer Montur. Jawoll, Herr Major, so ist das heute. Reif sind wir geworden. Und überhaupt … warum klettert der Hauptmann die Achterbahn hoch? So 'n versoffener Hund …
    Major Ritter gab es auf. Er ging mit Breuninghaus zum Eingang der Achterbahn, wo man durch das Gitterwerk der Eisenstreben genau den kletternden Boltenstern beobachten konnte. Der Besitzer und die Bremser standen herum und rauchten.
    »Hundert Mark für den, der ihn herunterholt!« sagte Dr. Breuninghaus laut.
    Niemand rührte sich.
    »Zweihundert Mark!«
    Schweigen.
    »Fünfhundert Mark!«
    »Es hat keinen Sinn!« sagte der Besitzer langsam. »Meine Jungs sind sonst nicht bange … sie montieren die Bahn ja auch und klettern dran herum. Aber wissen Sie, was der Kerl da tut, wenn jemand in seine Nähe kommt? Wenn er ihn wegstößt … nee, das ist zu gefährlich …«
    »Aus!« sagte Dr. Breuninghaus und legte schwer die rechte Hand auf Ritters Schulter. »Vertrauen wir auf Gott! Ich verstehe das alles einfach nicht. Vor einer halben Stunde war Boltenstern doch noch völlig normal …«
    Um Boltenstern herum war die Welt völlig versunken. Er stieg seinen Kristallberg hinauf, durch wogende Wolken, die alles Irdische verdeckten. Nur die Schneegipfel sah er, und seine Sehnsucht wurde riesengroß, zu ihnen zu fliegen und ein Geschlecht der königlichen Adler zu gründen.
    Die Spitze! Der Gipfel!
    O herrliche Freiheit!
    Boltenstern stand auf dem schmalen Eisenträger und hielt sich an dem eisernen Fahnenmast fest. Unter ihm war unheimliche Stille. Zwei Sprungtuchmannschaften rannten herum, um sich dort aufzustellen, wo nach ihren Berechnungen der Körper niederfallen mußte, wenn er stürzte. Auf der Leiter stand ein älterer Feuerwehrmann und sprach auf Boltenstern ein. Aber es war, als zerfließe seine Stimme, noch ehe sie das Ohr Boltensterns erreicht hatte.
    Die Schneeberge in der Sonne! Die Majestät der Unberührtheit! Dort ist man Gott nahe … dort wird man ein König sein und mit weiten Schwingenschlägen über das Land ziehen. Unter sich die blühenden Wiesen, über sich der kristallene Himmel. Gibt es Schöneres?
    Boltenstern lehnte sich gegen den eisernen Fahnenmast und breitete die Arme weit aus. So stand Ikarus da, ehe er zur Sonne flog und das Wachs schmolz, das die Federn seiner Flügel zusammenhielt.
    Ein Adler! Ein Adler!
    Gibt es Gewaltigeres, als frei unter der Sonne zu schweben …?
    Zwischen den parkenden Autos drückte Jutta den Kopf gegen die Brust Werner Ritters. Nach langem Suchen hatte er sie gefunden, versteckt hinter den Autodächern. Sie konnte von hier aus ihren Vater sehen … einen dunklen Strich gegen den blauen Sommerhimmel, umgeben vom Glast der Sonne, als schwebe er schon jetzt.
    »Entsetzlich …«, sagte Werner Ritter leise, als er Jutta gefunden hatte, die den Kopf auf ein heißes Autodach gelegt hatte und laut weinte. »Kannst du das verstehen?«
    »Ja!« schrie sie. »Ja! Ja!« Es waren grelle Schreie, als läge sie auf einem flammenden Holzstoß und verbrenne bei lebendigem Leib.
    Eine dumpfe Ahnung stieg in Ritter auf. Er zog Jutta an sich und legte beide Arme um ihren zuckenden Kopf.
    »Sag alles …«, sagte er leise.
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