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Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Titel: Zu zweit tut das Herz nur halb so weh
Autoren: Julie Kibler
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Armen.
    In unserer Pension war Miss Isabelle zu müde zum Essen und trank
bloß ein bisschen heißes Wasser. Ich half ihr, sich fürs Bett fertig zu machen.
Sie war so erschöpft, dass sie kaum die Arme heben konnte, als ich ihr hübsches
geblümtes Kleid aufknöpfte und den Reißverschluss aufzog. Zum ersten Mal sah
ich sie fast nackt. Sie wirkte so klein und zerbrechlich, dass ich Angst hatte,
ihr wehzutun, während ich ihr das Nachthemd überstreifte.
    Â»Danke, Dorrie. Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.«
    Ich drückte ihre Schulter. »Ich weiß, Miss Isabelle, ich weiß.«
    Im Bett schloss sie sofort die Augen. Vielleicht dachte sie darüber
nach, was sie im Leben verpasst hatte.
    Die Trauerfeier am nächsten Tag verlief ruhig. Ein einziges Mal ging
ein Raunen durch die Menge, als der Geistliche Cora Prewitt als Pflegemutter
und Isabelle McAllister Thomas als leibliche Mutter nannte. Anschließend
marschierten wir von der Kirche zum Friedhof, wo Pearls Sarg neben Roberts Grab
in den Boden gesenkt wurde. Miss Isabelle war den ganzen Morgen über sehr
beherrscht. Erst bei den letzten Worten des Geistlichen fing sie zu weinen an.
    Ich legte den Arm um sie wie eine Mutter um ihr Kind.
    Später fuhren wir mit zu Nell. Sie war verwitwet, Bruder James
längst tot. Sie lebte nach wie vor in South Newport, in einem schmalen Haus,
das sie und Bruder James nach der Heirat gekauft hatten. Miss Isabelle meinte,
die Gegend hätte sich nicht sonderlich verändert, aber die kleine Kirche mit
der Laube, wo sie sich mit Robert getroffen hatte, gab es nicht mehr. Da stand
jetzt eine Fabrik.
    Die Leute brachten heiße Gerichte, kalte Platten, Kekse und Kuchen.
Manche kamen, von Nell ermutigt, vorsichtig auf Miss Isabelle zu und erzählten
ihr von Pearls Leben. Sie hatte eine schwierige Ehe geführt, ihre Söhne
praktisch allein aufgezogen und als Lehrerin gearbeitet, zuerst in einer
Grundschule in Covington mit Rassentrennung, später, in der stürmischen Zeit
der Bürgerrechtsbewegung, in einer gemischten Schule. Die meisten jungen Leute
bei der Trauerfeier waren Kinder oder Enkel von ihren Schülern.
    Ich staunte, wie gut Miss Isabelle mit der Situation zurechtkam. Ich
hätte bestimmt lauthals herumgejammert, weil ich meine Tochter nie
kennengelernt hatte.
    Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, schloss Nell die Tür. Sie
war eine von Pearls Ersatzmüttern gewesen; Pearl hatte sie ihr ganzes Leben
lang Schwester genannt.
    Nell setzte sich zu Miss Isabelle an den Küchentisch, die ohne
Appetit an ihrem Essen knabberte. Ich machte mir allmählich Sorgen darum, wie
wenig sie aß. Sie schien förmlich vor meinen Augen zu verkümmern. Nell schenkte
sich eine Tasse Kaffee ein und rückte einen Stuhl heran. Schweigend saßen wir
da.
    Wenig später kam Felicia, Pearls Schwiegertochter, zurück, die ihren
Mann und die Kleine heimgebracht hatte. Sie hatte Miss Isabelles Namen und
Telefonnummer in Pearls Adressbuch entdeckt und Nell gefragt, ob sie sie über
Pearls Tod benachrichtigen sollte. Daraufhin hatte Nell Felicia die Geschichte
von Isabelle und Robert und Pearls Geburt erzählt. Sie hatte die Vergangenheit
ruhen lassen und Miss Isabelle nicht benachrichtigen wollen. Aber Felicia hatte
darauf bestanden und Nell schließlich dazu gebracht, Miss Isabelle anzurufen.
Das war vor fast zwei Wochen gewesen. Sie hatten mit Pearls Beerdigung gewartet,
bis Miss Isabelle dabei sein konnte, bis sie vielleicht auch den Schock
überwunden hatte. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, wie groß dieser
Schock für sie gewesen sein musste.
    Â»Sallie Ames, die Hebamme«, sagte Nell zu Miss Isabelle, »dachte,
dass Pearl zu klein wäre, um zu überleben. Deine Mutter hat sie gebeten, sie
ins Waisenhaus für Farbige in Cincinnati zu bringen. Shalerville war nicht der
richtige Ort für ein schwarzes Baby. Sallie hatte Mitleid mit dir, Isabelle.
Sie wollte sie dir nicht so einfach wegnehmen. Im Waisenhaus, das wusste sie,
wäre das Kind bestimmt gestorben, also hat sie spätabends an unsere Tür
geklopft. Es war sehr heiß; das hat Pearl vermutlich in den ersten Stunden das
Leben gerettet. Sallie kam nicht allein zu uns.«
    Nell hielt inne, schien zu überlegen, ob sie weitererzählen sollte.
    Â»Dein Vater war bei ihr. Er hat sie in der Dunkelheit aus
Shalerville herausbegleitet. Doc McAllister wusste,
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