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Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Titel: Zu zweit tut das Herz nur halb so weh
Autoren: Julie Kibler
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hätte zeichnen können. Auf dem aktuellsten Foto wirkten ihre
Augen hell und wach, und sie stand kerzengerade da wie die wenigsten Frauen in
ihrem Alter. Doch in ihrem Blick entdeckte ich Jahrzehnte des Kummers.
    Die Hautfarbe wies sie als Roberts Tochter aus. Auch in ihrer Größe
erkannte ich ihn wieder – den Bildern nach zu urteilen, war sie bestimmt zehn
Zentimeter größer gewesen als ich.
    Aber ihr restliches Aussehen nahm mir die Luft zum Atmen.
    Pearl sah aus wie ich.

VIERZIG
    DORRIE, GEGENWART
    Miss Isabelle starrte ihre Tochter an. Diejenige, die man
ihr weggenommen, die sie nie im Arm gehalten hatte.
    Als ich begriff, wer da in dem Sarg lag, wurde mir schwindelig, und
ich musste mich an einem Sessel festhalten. Wir waren eine halbe Stunde vor dem
offiziellen Beginn da und die ersten Gäste. Aber nun schlurfte eine andere alte
Frau mit einem Gehwägelchen herein. Das musste Nell sein.
    Der Moment, den ich auf der ganzen Fahrt geahnt und befürchtet
hatte, war gekommen. Ich musste jetzt für Miss Isabelle stark sein. Sie hatte
keine Kraft mehr.
    Ich streckte die Hand nach ihr aus und nahm sie behutsam am Arm.
    Ich versuchte, mir vorzustellen, was Miss Isabelle in diesem
Augenblick dachte oder fühlte. Doch es war mir nicht möglich. Wie war ihre
Tochter am Leben geblieben? Diese Pearl Prewitt, die zu früh zur Welt gekommen
war, zu klein zum Überleben, wie Miss Isabelles Mutter behauptet hatte. Und wo
war Pearl all die Jahre gewesen, in denen Miss Isabelle ihr Geheimnis verbergen
musste? In denen sie mit einem Mann zusammenlebte, den sie nicht liebte? In
denen sie einen Sohn großzog, den sie zwar liebte, aber um eine Tochter
trauerte, die sie nie gesehen hatte?
    Wer hatte ihr das angetan?
    Ich sah zu Nell und hätte sie am liebsten sofort zur Rede gestellt.
    Aber Miss Isabelle lief so schnell zu ihr, wie ihre müden, dünnen
Beine sie trugen, und die beiden umarmten sich inniglich.
    Miss Isabelles Augen wurden feucht, und die von Nell auch.
    Â»Nell, sie ist so schön. Ich hatte mein Leben lang Sehnsucht nach
ihr.«
    Nell brachte Miss Isabelle ein Fotoalbum von Pearl, das neben dem
Sarg lag. Sie blätterte darin und studierte jedes einzelne Bild. Bei einem
legte sie die Hand auf ihre Brust und winkte mich zu sich. Wie die Dias, die
sie gestohlen und versteckt hatte, war es ein Familienporträt. Sie nannte mir
die Namen der Personen darauf, legte den Finger auf jedes Gesicht: Nell und
Cora, Bruder James und Alfred und natürlich die kleine Pearl auf dem Schoß der
Frauen, die sie großgezogen hatten. Nur Robert fehlte. Hatte er von Pearl
gewusst? Gewusst, dass sie seine Tochter war?
    Ich musste wegsehen.
    Den restlichen Abend saß Miss Isabelle sehr still in einem viel zu
großen Sessel und beobachtete die anderen Trauergäste. Ich wählte ein Sofa
neben ihrem Sessel. Einige Leute fragten mich, ob der Platz neben mir besetzt
wäre, streckten mir die Hand hin und stellten sich als Freunde oder Verwandte
der Verstorbenen vor. Ich sagte ihnen bloß meinen Vornamen und erklärte nicht,
was ich hier verloren hatte. Sie verabschiedeten sich schnell wieder oder
redeten mit jemand anders.
    Abgesehen von Nell kannte Miss Isabelle niemanden – Cora war
natürlich längst tot. Die Anwesenden beäugten die alte weiße Dame, die so viel
Ähnlichkeit mit Pearl hatte, neugierig. Aber Nell stellte sie nicht vor; sie
ließ Miss Isabelle in Ruhe trauern.
    Erst zum Schluss brachte Nell zwei Männer zu ihr, Pearls Söhne.
Pearl hatte spät geheiratet, sich scheiden lassen und wieder ihren Mädchennamen
angenommen. Ihre Söhne waren Ende dreißig, einer Doktorand und Single, der
andere Familienvater. Er hatte ein kleines Mädchen, nicht älter als vier oder
fünf, das Miss Isabelle verlegen musterte, bis diese sie anlächelte. Daraufhin
quetschte sich die Kleine zu ihr auf den Sessel, nahm Miss Isabelles Hand und
streichelte sie.
    Â»Du hast weiche Haut«, sagte sie. »Du bist meine Uroma, sagt Mommy.
Du gefällst mir. Meine Oma war auch schön. Sie ist tot.«
    Ihr Vater und sein Bruder traten unruhig von einem Fuß auf den
anderen, während Pearls Schwiegertochter das Ganze mit halb glücklichem, halb
traurigem Blick beobachtete. Die Kleine flüsterte Miss Isabelle etwas ins Ohr.
Irgendwann schlief sie bei Miss Isabelle ein. Als ihre Eltern gehen wollten,
löste ihr Vater sie vorsichtig aus ihren
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