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Zu Grabe

Zu Grabe

Titel: Zu Grabe
Autoren: Daniela Larcher
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reichlich gegossen und die Jacobinien alle paar Tage mal gedüngt werden«, erklärte Morell dem völlig überforderten Bender. »Ach, und du müsstest auch unbedingt regelmäßig die Blätter kontrollieren und sie bei Bedarf abstauben. Die Pflanzen hassen es nämlich, dreckig zu sein.«
    Bender starrte seinen Vorgesetzten fassungslos an. Das mussten Zigtausende Blätter sein. Wie zur Hölle sollte er jedes einzelne davon kontrollieren und saubermachen? Und wie sollte er sich all die verschiedenen Pflegeanleitungen merken? Vor seinem inneren Auge sah er bereits, wie sämtliche Lieblinge des Chefinspektors dem Ficus aus dem Büro in den Pflanzenhimmel folgten.
    »Oh, schau mal, wer da kommt«, rief Morell. Fred, der, was das Übergewicht anging, ganz nach seinem Besitzer kam, schnupperte neugierig an den Hosenbeinen des Besuchers. Morell hob das getigerte Schwergewicht hoch und streichelte es, bis es zu schnurren anfing. »Fred bekommt dreimal täglich was zu fressen. Katzenfutter steht im Regal.« Der Chefinspektor setzte sein Haustier wieder auf den Boden. »Einmal täglich muss das Katzenklo gemacht werden, da ist er sehr heikel, und wenn möglich solltest du auch regelmäßig mit ihm spielen und dich ein bisschen mit ihm unterhalten. Ich befürchte, dass er auf meine Abwesenheit sonst ungut reagieren könnte.«
    Bender nickte und fragte sich, wie Morell überhaupt noch Zeit für die Polizeiarbeit fand. »Ist gut. Machen Sie sich keine Sorgen. Das kriege ich schon hin.« Er war zwar von seinen Worten alles andere als überzeugt, doch die Tatsache, dass sein Chef ein wenig abgelenkt wurde und den Liebeskummer endlich überwand, war vorrangig. Bender nahm also den Schlüssel zu Morells Reich entgegen und wünschte seinem Chef eine gute Reise.

»Zum Begräbnis der Wahrheit
    gehören viele Schaufeln.«
    Deutsches Sprichwort
    Noch nie war das Ziel seiner langen Suche so nah gewesen wie jetzt: Die Wahrheit lag in braunes Leder gebunden vor ihm auf dem Tisch und wartete ungeduldig darauf, sich zu offenbaren. Sie drängte ihn, schrie förmlich danach, gelesen zu werden und endlich ans Licht zu kommen – aber er ließ sich nicht von ihr hetzen. Nachdem er so viele Jahre auf diesen Augenblick gewartet hatte, wollte er sich nun Zeit lassen und den Moment der Erkenntnis auskosten wie einen gut gereiften, alten Wein. Er wollte Wort für Wort konzentriert in sich aufnehmen. Zeile für Zeile so rein und unverfälscht wie möglich in sein Bewusstsein fließen lassen. Zu viel stand auf dem Spiel, als dass er es sich erlauben konnte, voreilig oder überstürzt zu handeln.
    Behutsam strich er über den abgegriffenen, speckigen Einband, befühlte dessen rauhe, ungleichmäßige Beschaffenheit und betrachtete die vielen Risse, Kratzer und Schrammen, die die Hülle im Laufe ihrer Existenz davongetragen hatte. Vorsichtig nahm er die Aufzeichnungen in die Hand und atmete den Duft des vergilbten Papiers ein. Herb, erdig und ein kleines bisschen modrig – so rochen sie also, die Antworten auf all seine Fragen.
    »Oh, sagt man doch, dass Zungen Sterbender, wie tiefe Harmonie Gehör erzwingen; Wo Worte selten, haben sie Gewicht: Denn Wahrheit atmet, wer schwer atmend spricht.«
Shakespeare hatte recht behalten: Erst im Angesicht des Todes war Novak endlich bereit gewesen, alles zuzugeben. Da der Mistkerl vor lauter Schmerzen kaum mehr in der Lage gewesen war zu reden, hatte er verraten, wo sich sein Tagebuch befand – es sollte an seiner statt sprechen und alle Details erzählen.
    Dieses Tagebuch lag nun vor ihm, bereit, sein Geheimnis zu offenbaren. Endlich würde er die ganze Geschichte erfahren.
    Eine Geschichte, die von einem großen Abenteuer, einem mystischen Königsgrab und einem sagenumwobenen Schatz handelte.
    Eine Geschichte, in der es um Habgier, Verrat und einen alten Fluch ging.
    Eine Geschichte, in deren Namen Menschen ermordet wurden.
    Seine Geschichte.

»Mein Odem ist schwach und meine Tage
    sind abgekürzt; das Grab ist da.«
    Bibel, Hiob 17: 1
    Als Morell am Wiener Westbahnhof aus dem Zug stieg, schlug ihm ein Schwall dreckiger, kalter Luft entgegen. Er knöpfte seine Jacke zu und schauderte. Der Himmel war trüb und wolkenverhangen, und feiner, grauer Nieselregen benetzte sein Gesicht. Die Geräuschkulisse war dieselbe wie in den Jahren, als er noch hier gelebt hatte: Autohupen, lautes Rufen, Motorengeräusche, Hundekläffen und aus irgendeinem Haus auf der anderen Seite des Gürtels dröhnten die brummenden Bässe
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