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Zorn - Wo kein Licht

Zorn - Wo kein Licht

Titel: Zorn - Wo kein Licht
Autoren: Stephan Ludwig
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diesen morbiden Ort mussten, durchsichtige Gestalten, denen das Salz die Augen weggefressen hatte, Männer in altmodischen Zylindern, Frauen in großen Hüten und weiten weißen Röcken. Sie flanierten zwischen den verfallenen Kolonnaden, manche spielten Kricket, stumm, denn sie hatten keine Zungen, andere tanzten unter den Platanen Walzer, mit schwerelosen, gleitenden Bewegungen. Im Musikpavillon spielte ein Orchester, schief grinsende Kreaturen, die nur darauf warteten, ihre Geigen beiseite zu legen und den Lebenden, die sich hierhin verirrten, die dampfenden Gedärme aus dem Leib zu reißen. Widerliche, schmatzende Töne erfüllten dann die Luft, manchmal wechselte der Mond die Farbe, wurde blutrot, die Fliesen im Badehaus barsten, die Jugendstil-Ornamente flossen auseinander, die Wände öffneten sich, schlammiges Wasser drang hervor, Monster mit schwarzen Zähnen brachen sich Bahn und …
    Nein. Das waren natürlich Märchen.
    Schauergeschichten, die sich die Halbwüchsigen in der Umgebung hinter vorgehaltener Hand zuflüsterten. Spinnereien, der Phantasie wildgewordener Kinderhirne entsprungen.
    Nein, hier spukte es nicht.
    Dies war kein billiger Horrorfilm, sondern eine ganz normale Herbstnacht inmitten einer durchschnittlichen mitteldeutschen Stadt (nun ja, abgesehen vielleicht von den gruseligen Fernsehshows, die über die mitteldeutschen Flachbildschirme flimmerten). Der Mond stand wie immer am Himmel, die Platanen wiegten sich leise im Wind, still und verlassen schlief der alte Kurpark in der feuchten Oktobernacht.
    Kein Zombie, kein Monster, so weit das Auge reichte. Und auch der Mann, der im alten Badehaus im Schein einer Kerze saß und schrieb, war kein Geist. Obwohl sein Schatten wie ein Gespenst über die hohen, bröckelnden Wände tanzte.
    Nein, hier spukte es nicht.
    Aber dieser Ort war gefährlich. Und diese Gefahr war real.
    Es wusste nur niemand.
    Noch nicht.
    *
    Als Claudius Zorn am nächsten Morgen im Büro erschien, war alles so wie immer. Schröder saß rotwangig und gut gelaunt hinter seinem Schreibtisch und tippte mit flinken Fingern einen Bericht, Zorn schlurfte grußlos an ihm vorbei, fuhr seinen Computer ebenfalls hoch und fragte gähnend, ob es etwas Neues gäbe.
    »Wir haben zwei Fahrraddiebstähle, eine Anzeige wegen Körperverletzung und eine Vermisstenmeldung«, erklärte Schröder, ohne mit dem Schreiben aufzuhören.
    »Wer wird vermisst?«, fragte Zorn nicht sonderlich interessiert.
    »Wie ich schon sagte, Chef: Zwei Fahrräder.«
    »Verarsch mich nicht, Schröder. Nicht um diese Zeit, ja?«
    »Ach, du meinst die Vermisstenmeldung? Entschuldige, ich hatte nicht erwartet, dass du mir zuhörst, Chef.« Während Schröder sprach, starrte er konzentriert auf den Monitor und schrieb mit atemberaubender Geschwindigkeit weiter. »Es geht um einen pensionierten Richter. Die Meldung kam gestern Nachmittag, von seiner Schwägerin. Sie sagt, er sei seit vier Tagen verschwunden. Und die Anzeige wegen Körperverletzung hat der Türsteher vom Waldkater erstattet. Er behauptet, ein Gast habe ihn angegriffen, heute Morgen um zwei. Mit einem Korkenzieher.«
    »Ach.«
    Zorn gähnte herzhaft, malte mit dem Bleistift ein paar Kringel auf die Schreibtischunterlage und lauschte dem leisen, irgendwie einschläfernden Klappern von Schröders Computertastatur. So vergingen ein paar Minuten.
    »Was schreibst du da eigentlich?«, fragte er dann.
    »Der tote Bankangestellte, Meinolf Grünbein. Einen Bericht zum letzten Stand der Dinge.«
    Zorn gähnte noch einmal.
    »Kann es sein, dass du zwei Sachen gleichzeitig tun kannst, Schröder?«
    »Wie meinst du das, Chef?«
    »Du unterhältst dich mit mir über einen vermissten Richter und verfasst gleichzeitig einen Bericht über den Toten vom Fluss?«
    Schröder tippte weiter.
    »Das nennt man Multitasking. Ich kann viele Dinge gleichzeitig.«
    »Was denn noch?«
    »Zum Beispiel fernsehen und dabei schlafen.«
    Während Zorn noch stirnrunzelnd überlegte, was damit gemeint sein könnte, begann der Drucker zu rattern. Schröder lehnte sich zurück.
    »Fertig. Willst du’s lesen?«
    »Nee, erzähl’s mir lieber.«
    »Ich war gestern in der Wohnung«, begann Schröder. »Jemand war dort, entweder kurz vor oder nach Grünbeins Tod. Wahrscheinlich hat er etwas gesucht.«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Meinolf Grünbein war kein ordentlicher Mensch. Das Einzige, worum er sich halbwegs gekümmert hat, waren seine Anzüge, die Sachen, die er in der Bank getragen hat.
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