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Zorn - Tod und Regen

Zorn - Tod und Regen

Titel: Zorn - Tod und Regen
Autoren: Stephan Ludwig
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»Pling« – dann nämlich, wenn er eine dienstliche Mail erhielt, die einzig und allein den Zweck hatte, weiteres Papiergeraschel zu erzeugen.
    Spätestens in zehn Jahren, überlegte er und bedachte den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch mit einem scheelen Seitenblick, werde ich mich ebenfalls in Papier verwandelt haben und beende mein irdisches Dasein als ein vergilbter Haufen Krümel. Und irgendwann, Monate später, kommt jemand in mein Büro, und ich werde durch den Luftzug einfach aus dem Fenster geweht.
    Da Claudius Zorn ein kluger Mensch war, wurde er noch mürrischer, denn wie allen klugen Menschen war ihm bewusst, wenn er Blödsinn dachte, und als bröselnder Papierfetzen aus dem Fenster geweht zu werden war nun wirklich das Absurdeste, was er sich im Moment vorstellen konnte. Mit Ausnahme der nächsten Dienstberatung, überlegte er weiter, griff sich wahllos ein Gesprächsprotokoll, unterschrieb, ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben, und als er dann gelangweilt zur nächsten Akte griff, hörte er Schritte, die sich hastig seinem Büro näherten.
    O Herr, dachte Zorn, lass diesen Kelch – und vor allem diesen Menschen, egal wer es ist – an mir vorübergehen.
    Der liebe Gott allerdings scherte sich wenig um die Gebete eines überzeugten Atheisten, und so öffnete sich die Tür, und Zorn erblickte den biblischen Kelch in Gestalt des dicken Schröder, der verschwitzt und gutgelaunt – für Zorns Begriffe eindeutig zu gutgelaunt – ins Büro stürmte. Der unvermeidliche Luftzug wehte zwar nicht Zorn aus dem Fenster, dafür allerdings einen Notizzettel von seinem Schreibtisch. Während Zorn sich zurücklehnte und beobachtete, wie das Schriftstück langsam zu Boden segelte, stand Schröder schwer atmend in der Tür.
    »Hallo Chef!«, keuchte Schröder und wedelte den Zigarettenrauch beiseite, »wir haben –«
    »Was haben wir?«
    »Wir haben –«
    »Moment!«, unterbrach Zorn und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das am Boden liegende Papier. Aus jahrelanger Erfahrung wusste Schröder, was von ihm erwartet wurde, bückte sich dienstbeflissen und meinte: »Ja ja, von der Wiege bis zur Bahre …«
    Sag es nicht, dachte Zorn.
    »… Formulare, Formulare!« Schröder strahlte und legte den Zettel zurück in die Ablage.
    Es gab Momente, in denen Claudius Zorn diesen gutmütigen, übergewichtigen Beamten ohne mit der Wimper zu zucken erschossen hätte. Auf der anderen Seite mochte er den ständig schwitzenden Schröder sehr, denn hinter seiner trotteligen Fassade verbarg sich ein intelligenter, warmherziger Mensch, der zudem über ein unglaubliches Gedächtnis verfügte. Hatte Schröder einmal eine Akte gelesen, kannte er sämtliche Fakten auswendig, was sich in vielen Fällen als unschätzbar erwiesen hatte.
    Schröder war Zorn absolut ergeben. Und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Außer, man nannte ihn bei seinem Spitznamen. Zorn kannte ihn seit zehn Jahren, und vom ersten Augenblick war er für ihn
der dicke Schröder
.
    Weil er dick war. Und weil er Schröder hieß. Und weil Zorn sich den Vornamen aus der Personalakte gar nicht erst gemerkt hatte.
    Wie immer trug Schröder eine ausgebeulte Cordhose, ein verblichenes, kariertes Hemd bedeckte den stattlichen Bauch. Um seine Glatze zu kaschieren, hatte er die spärlichen, rötlichen Haare über dem linken Ohr bis auf zwanzig Zentimeter wachsen lassen und von dort ausgehend quer über den Kopf gekämmt, weswegen er Zorn immer an ein frisch gebügeltes Frettchen erinnerte.
    »Also. Was haben wir?«, wiederholte Zorn und versuchte, gleichzeitig desinteressiert und überlegen zu klingen.
    »Wir haben«, Schröder reckte sich zu voller Größe, die ungefähr bei 1,65 lag, »einen …«
    »Ja?«
    »Wir haben einen Fall!«
    »Einen was?«
    »Einen Fall!«
    Klasse, dachte Zorn. Wir haben einen Fall.
    »Einen mutmaßlichen Mordfall«, ergänzte Schröder stolz.
    »Ach«, murmelte Zorn und tat, als würde er seine Akten sortieren.
    *
    Zorn wusste nicht recht, wie er sich fühlen sollte. Er war unterwegs zu Philipp Sauer, dem zuständigen Staatsanwalt, Schröder im Schlepptau, der wie immer einen halben Meter hinter ihm herhechelte. Ein Mordfall konnte zwar so etwas wie Abwechslung bringen, klar war allerdings auch, dass Arbeit vor ihm lag. Unangenehme Arbeit, und als er das dachte, wurde Zorn wieder bewusst, dass er nicht nur ein gelangweilter, sondern ein äußerst fauler Mensch war.
    Zorns Büro lag am Ende eines langen, düsteren Flures,
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