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Zorn der Meere

Zorn der Meere

Titel: Zorn der Meere
Autoren: Falconer,Colin
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jedoch nicht.« Sie warf einen Blick auf den Rest des Skeletts. »An ihren Armen befinden sich keinerlei Merkmale, die auf Gegenwehr deuten, daher gehe ich davon aus, dass sie gefesselt war, als sie starb. Der Schädel ist noch intakt, ohne erkennbare Frakturen. Schwer zu sagen, was sie umgebracht hat. Gewebeverletzungen hinterlassen ja bekanntlich keine Spuren. Ich hoffe nur, es ging schnell.«
    Bis auf das Summen der Fliegen und das Getöse, mit dem die Brandung gegen das Riff klatschte, war für eine Weile nichts mehr zu vernehmen. Das kleine, baumlose Eiland mit den Fischerhütten und Vogelkolonien hatte sich als Massengrab herausgestellt. Bereits acht Skelette hatten sie bisher entdeckt, drei Erwachsene und fünf Kinder. In einem Fall schien der Tod durch den Schuss einer Muskete ausgelöst worden zu sein. In dem nächsten Schädel klaffte eine Lücke, die womöglich durch einen Schlag mit der Axt herbeigeführt worden war. Die Mienen der fünf Männer und drei Frauen, die zu der Gruppe der Archäologen gehörten, wirkten bedrückt. Jeder von ihnen versuchte, sich auf seine Art die Verbrechen vorzustellen, die hier vor langer Zeit begangen worden waren.
    Der Schädel im Sand grinste sie an.
    Das kleine Mädchen wusste, was geschehen war. Wer immer es auch gewesen sein mochte - es hätte sich an alles erinnert.
    Es hätte sich daran erinnert, wie es mit sieben Jahren durch die Kirche von Amsterdam rannte und daran, dass seine Mutter es ausschalt, weil es die Predigt von Pfarrer Bastians störte, der in seinem schwarzen Gewand gegen das Böse in der Welt wetterte.
    -5-

    Es würde nicht mehr lang dauern, verkündete er, da würde er auf der Batavia zu ihrer Kolonie in Ostindien segeln, um dort dem Herrn und seinem Wort zu dienen. Anschließend warnte er die Gemeinde vor den Fallstricken des Teufels, die dieser in seiner Abwesenheit auslegen würde, um sie ins Verderben zu locken.
    Doch der Teufel schien an jenem schönen Amsterdamer Sonntagmorgen, an dem sich die hellen Sonnenstrahlen in den bunten Kirchenfenstern brachen, meilenweit entfernt zu sein.
    Waren sie denn nicht alle gottesfürchtige holländische Calvinisten, Auserwählte des Herrn, die das gestrenge Leben der Gerechten führten? Predigte der Herr Pfarrer denn das nicht gerade? Sagte er nicht, dass die göttliche Vergeltung allein auf die Voller, die Schwelger und die Wollüstigen zielte?
    Schädel, Stundenglas und Kerze.
    Jeronimus vertiefte sich für lange Zeit in den Anblick dieser Gegenstände, ehe er seine Feder in die Tinte eintauchte und in sein Tagebuch zu schreiben begann:
    »Der Mensch spricht von gut und böse, als könne man sein Verhalten wie Metalle scheiden, in nieder oder edel. Das ist falsch. Darüber hinaus ist es ein Trugschluss, der eine Folge von Irrtümern zeitigt.
    Wenn es wahr ist, dass jede unserer Regungen Gottes Willen entspringt, also einem Wesen entstammt, das gut und gerecht ist, dann kann das, was der Mensch tut, niemals schlecht oder unrecht sein.
    Es gibt nur ein Maß, an dem sich ablesen lässt, ob die Menschen stark sind oder schwach, ob sie die Kraft besitzen, Gottes Willen auszuführen, oder...«
    Als unten an das Portal geklopft wurde, schreckte Jeronimus auf. Aus seiner Federspitze tropfte ein schwarzer Fleck auf das Papier. Er erhob sich, trat ans Fenster und spähte hinunter in die Gasse.
    -6-

    »Jeronimus! Mach auf!«
    Jeronimus eilte die Treppe hinab, zerrte seinen Besucher in den Hausflur und sperrte das Tor von innen zu.
    Drinnen nahm sein Besucher vor dem Kaminfeuer Platz und rieb sich die Hände, teils aus Furcht, teils auch der Kälte wegen.
    Jeronimus fü llte zwei Zinnbecher mit Wein.
    »Bringst du eine schlechte Nachricht?«
    Der Gast schüttelte den Kopf. »Selbst unter der Folter konnten sie ihn nicht brechen. Nicht ein Name ist über seine Lippen gekommen.«
    »Gott sei's gelobt und gedankt«, flüsterte Jeronimus.
    »Er besitzt noch Freunde bei den Engländern. Man sagt, dass er verbannt werden wird.«
    Jeronimus starrte in die Flammen. Die Hälfte seines Gesichtes lag im Schatten verborgen.
    »Vielleicht wäre es klug, wenn du Amsterdam für eine Weile verlassen würdest.«
    »Soll mir Recht sein«, schnaubte Jeronimus verächtlich. »Ich bin dieser Frömmler längst überdrüssig geworden.«
    »Hast du Pläne gemacht?«
    Jeronimus nickte. »Ja, ich habe Pläne gemacht.«

    Amsterdam
    siebenundzwanzigster Tag des Oktober im Jahre des Herrn, 1628

    Die Batavia lag vor der friesischen Insel Texel
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