Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zoë

Titel: Zoë
Autoren: C Carmichael
Vom Netzwerk:
er wieder, dieser tiefernste Tonfall, der sich immer in die Stimmen der Erwachsenen schlich, wenn ihnen langsam dämmerte, was es hieß, Eltern zu sein, wenn sie sich vorstellten, wie viel Arbeit und Verantwortung ein Kind bedeutete, wie viel ihrer kostbaren Zeit ich ihnen stehlen würde, wie ich ihnen im Weg stehen und ihre Pläne durchkreuzen würde, wenn ihnen klar wurde, dass ich keinen Schalter hatte, mit dem sie mich einfach ausschalten konnten, wenn sie ihr verkorkstes Leben weiterleben wollten. Normalerweise dauerte es so eine Woche, bis ihre Stimmen diesen schweren Ernst annahmen, aber die letzten zwei Tage hatten es schließlich auch in sich gehabt – unsere Begegnung in der Psychiatrie, Mamas Beerdigung und dann noch das Zusammentreffen mit der Stinktierfrau.
    »Nacht, Onkel Henry«, sagte ich noch einmal.
    »Ich muss morgen ein paar Dinge erledigen«, sagte er. »Ich fahr ganz früh los, lange bevor du auf bist, und komme erst spät zurück.«
    Mein Herz fing an zu flattern. Ich atmete tief durch, um es zu beruhigen, aber wenn ein Herz die Wahrheit erst einmal kennt, lässt es sich nicht mehr belügen. Irgendwas in der Art sagten sie alle, bevor sie sich aus dem Staub machten, es war die erste Stufe im Countdown zum Abhauen. Drei: Die lahme Ausrede, sie müssten irgendwas erledigen, und zwar einen ganzen Tag oder eine ganze Nacht lang. Zwei: Sie müssten einem Freund helfen, der in Schwierigkeiten sei, oder einen sterbenden Verwandten betreuen, eine Woche lang. Eins: Ein neuer Job in einem anderen Bundesstaat, Dauer unbestimmt. Danach: Abschuss.
    »Es muss sein«, sagte Henry und sah durch mein Fenster in die Nacht hinaus.
    Er kann mir nicht in die Augen sehen, dachte ich. Lässt ja tief blicken. »Wie du meinst«, sagte ich.
    »Fred kommt morgen früh her, sobald er kann. Seine Frau Bessie und er wohnen ganz in der Nähe, nur ein Stück die Straße hoch, und Fred hilft mir mit allem, was hier so zu erledigen ist. Ich leg dir seine Telefonnummer auf den Küchentisch.«
    Klar doch, dachte ich.
    Henry blieb in der Tür stehen, das Flurlicht fiel von hinten auf ihn. Anscheinend suchte er noch nach Worten, nach irgendetwas, das es uns beiden leichter machen würde.
    »Ich bin daran gewöhnt«, sagte ich.
    »Woran?«
    »Daran, dass Menschen kommen und gehen. Dass ich allein bin. Mein ganzes Leben lang bin ich die meiste Zeit allein gewesen. Nach einer Weile gewöhnt man sich dran, irgendwann gefällt es einem sogar.«
    Wieder blieb es lange still. Henry senkte den Kopf, ich hörte seinen Atem, spürte, wie er nachdachte über das, was ich gesagt hatte.
    »Blödsinn«, sagte er und schloss die Tür hinter sich.
     
     
     
     
     

2
    Am nächsten Morgen wachte ich früh auf, aber nicht früh genug. Ich flitzte sofort zu den Fenstern an der Treppe, von denen aus man den Platz vor dem Haus überblickt. Die Sonne schaute kaum über die Baumspitzen, doch Henrys Wagen war bereits fort.
    Noch in den Sachen, in denen ich geschlafen hatte, lief ich im Halbdunkel durch die feuchte Luft nach unten. Die Stufen waren in der Mitte ausgetreten von den vielen Menschen, die im Laufe der Jahre darübergelaufen waren, und ich schloss die Augen und stellte mir ihre Geschichte vor. Henrys Eltern hatten hier gewohnt und vor ihnen noch andere Mitglieder unserer Familie. Ich sah Generationen unserer Familie vor mir, wie sie die Treppe hoch- oder herunterstiegen: junge und alte, alle rothaarig, stur und mit Zahnlücke.
    In der Küche füllte ich einen großen Becher zur Hälfte mit Kaffee, hob den angeschlagenen Deckel von der Zuckerschale und zählte meine üblichen acht gehäuften Löffel ab. Dann füllte ich den Becher mit Milch auf. Henry hatte für mich gedeckt: eine Schale, einen Löffel, eine Schachtel Rosinenflocken und – oh Wunder über Wunder! – einen Zettel mit Freds Telefonnummer. Abends zurück , stand daneben. Er hatte erst mit seinem vollen Namen unterschrieben, Henry Royster , dann hatte er Royster durchgestrichen und vor Henry noch Onkel reingequetscht.
    Mein Sandwich mit Pute vom Abend zuvor lag im Kühlschrank, in eine Papierserviette gewickelt, und ich nahm Kaffee und Brotmit auf einen Erkundungsrundgang. Dazu war bisher keine Zeit gewesen. Man erfährt eine Menge über Menschen, wenn man sich genauer ansieht, wie sie leben, und so nahm ich mir vor, an diesem Tag ein bisschen herumzuschnüffeln, für den Fall, dass Henry doch zurückkam.
    In Henrys Haus gab es viele Fenster und reichlich Licht, anders als in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher