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Zoë

Titel: Zoë
Autoren: C Carmichael
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silbernes Mobile über meinem Kopf, als wären Wolken ins Haus gekommen. Neben der Treppe zum zweiten Stock hingen auf beiden Seiten noch mehr Bilder, Dutzende, wild durcheinander. Ich berührte sie mit den Fingern und spürte die raue Oberfläche der Farbe. Wenn jemand, der mit mir blutsverwandt war, das alles gemalt und gezeichnet hatte, dann besaß ich diese Begabung ja vielleicht auch. Henrys Bilder waren voll Farbe und Leben. Vielleicht könnte ja etwas von diesem Leben auf mich abfärben.
    Im zweiten Stock öffnete ich die Tür zu Henrys Zimmer, und was ich sah, überraschte mich völlig. Der Raum war gewaltig. Anjeder der langen Wände waren vier raumhohe, bogenförmige Fenster, die oben spitz zuliefen wie Fenster in einer Kirche. Nicht weit von mir stand ein riesiger Zeichentisch, dessen schräge Platte übersät war mit Skizzen und Notizen, die mit Tesa festgeklebt waren. Daneben standen ein Stuhl auf Rollen, eine leere Staffelei, ein Tisch mit mehreren Holzkisten voller Öl- und Pastellfarben und Gläsern voller Pinsel, die mit dem Kopf nach oben standen, mit Griffen voll angetrockneter Farbe, aber sauberen Borsten. Über dem Arbeitstisch hingen Dutzende weiterer Zeichnungen, Skizzen für Skulpturen, die ich draußen gesehen hatte, aber auch noch mehr Bilder derselben Frau – allerdings sah sie auf diesen dünner aus, und sie trug die Haare ganz kurz geschnitten oder hatte ein Kopftuch umgebunden.
    Über mir, an Haken in der hohen Decke, baumelten und tanzten Mobiles. Ein großes Mobile mit Schmetterlingen und silbernen Vögeln ging über den gesamten Zeichentisch. Ein anderes aus roten, blauen und gelben Kreisen und Dreiecken wirbelte direkt über meinem Kopf herum.
    Ganz hinten im Raum stand ein enormes Bett, das aussah wie aus einem Märchen. Seine vier Metallpfosten reichten fast bis zur Decke, und jeder war wie ein schlanker Baum gestaltet, einer für jede der vier Jahreszeiten. Die Zweige des Herbstbaums und des Frühlingsbaums griffen ineinander und bildeten den Kopfteil des Bettes, auf dem in silberner Schrift Henry liebt Mandy geschrieben stand. Mandy musste die Frau auf den Bildern sein. Ich fragte mich, wo sie jetzt wohl sein mochte.
    Das Bett war ungemacht, der ganze Raum wirkte auf gemütliche Weise unaufgeräumt, zwar sauber und grundsätzlich gepflegt, aber eben bewohnt. Überall waren Bücher. Sie lagen auf dem Bett und am Boden herum, stapelten sich auf den beiden Nachttischen, zehn, zwölf Stück übereinander, auf denFensterbänken und der Kommode lehnten sie aufrecht aneinander, manche ragten sogar aus den offenstehenden Schubladen der Kommode. Die Polster eines alten Sofas, auf dem gerade noch für eine Maus Platz gewesen wäre, wurden von wackligen Bücherstapeln plattgedrückt. Die einzigen Sitzgelegenheiten waren ein Sessel und eine Fußbank, doch sogar auf den Armlehnen und der Rückenlehne des Sessels waren Bücher abgelegt.
    Und was noch toller war: Keines der Bücher hatte eine Signatur von irgendeiner Bücherei auf dem Rücken, keines einen roten Eigentum-von- XY -Stempel auf dem Schnitt, keines diese hinten eingeklebten Zettel mit Rückgabeterminen. Jedes einzelne dieser Bücher gehörte Henry. Die meisten handelten von Künstlern. Ich besah mir staunend die Umschläge, las mit Flüsterstimme die Titel und versuchte dahinterzukommen, wie man die fremden Namen der Künstler wohl aussprach: Picasso, Gonzales, Man Ray, Rothko, Archipenko, Serra, Klee, Kapoor, Arp, Giacometti, di Suvero, Bontecou, Miró.
    Lange stand ich in dieser magischen Umgebung und nahm einfach nur alles in mich auf. Vielleicht war dieser Raum der Grund dafür, dass die Leute in der Stadt Henry angeschaut hatten, als hätte er mehr als nur eine Schraube locker. Vermutlich dachten sie: Man muss doch verrückt sein, wenn man ein Leben als reicher und berühmter Arzt aufgibt, um so zu leben! Aber mit dem Thema kannte ich mich aus. Mein ganzes Leben hatte ich mit einer verbracht, die wirklich verrückt war, nur war daraus nichts entstanden, was annähernd so schön und so fröhlich wie das hier gewesen wäre. Das hier war das genaue Gegenteil von verrückt.
    Neben einer Schachtel mit Stiften, Radierern und Zeichenkohle lag ein Zeichenblock auf dem Bett. Ich befühlte die Stifte, und auf einmal juckte es mich in den Fingern, selbst etwas zu zeichnen. Ich schlug den Block auf und sah eine Zeichnung, einauf dem Kopf stehendes Gesicht. Ich drehte den Block um und dachte, es wäre wieder ein Bild der Frau, die Henry
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