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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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unverständlicher Fluch – der Ober mali war ein Schwachkopf.
    Eine Fotografie
mochte Farrokh besonders gern. Er betrachtete sie aufmerksam und schloß dann die
Augen, um sich das Bild deutlicher einzuprägen. Lord Duckworths Gesichtsausdruck
verriet ein großes Maß an Nächstenliebe, Toleranz und Geduld, und doch lag in seinem
geistesabwesenden Blick so etwas wie Bestürzung, als hätte er gerade erst seine
eigene Nutzlosigkeit erkannt und akzeptiert. Obwohl Lord Duckworth breite Schultern
und einen mächtigen Brustkorb hatte und entschlossen ein Schwert in der Hand hielt,
verrieten die nach unten gezogenen Augenwinkel und die herabhängenden Schnurrbartenden
die Resignation eines freundlichen Dummkopfs. Er war andauernd fast Gouverneur von
Maharashtra, aber eben nie wirklich. Und die Hand, die er um Lady Duckworths mädchenhafte
Taille gelegt hatte, berührte sie deutlich ohne Gewicht und hielt sie ohne Kraft
– sofern sie sie überhaupt hielt.
    Lord D. beging am
Silvesterabend Selbstmord, genau zu Beginn des Jahrhunderts. Lady Duckworth entblößte
ihre Brüste noch viele Jahre lang, aber man war sich einig, daß sie sich als [41]  Witwe
zwar häufiger entblößte, aber nur halbherzig. Ein paar Zyniker meinten, daß Lady
D., hätte sie weitergelebt und Indien noch länger ihre Reize gezeigt, womöglich
die Unabhängigkeit vereitelt hätte.
    Auf dem Foto, das
Dr. Daruwalla so gern mochte, zeigte Lady Duckworths Kinn nach unten, und ihre Augen
blickten spitzbübisch nach oben, als wäre sie gerade dabei ertappt worden, wie sie
in ihr eigenes hinreißendes Dekolleté spitzt, und hätte sofort weggeschaut. Ihr
Busen war ein breiter, kräftiger Sims, auf dem ihr hübsches Gesicht ruhte. Selbst
wenn diese Frau vollständig bekleidet war, hatte sie etwas Ungehemmtes an sich.
Ihre Arme hingen neben dem Körper herunter, aber die Finger waren weit gespreizt
– die Handflächen der Kamera zugewandt wie für eine Kreuzigung –, und eine ungebärdige
Strähne ihres angeblich blonden Haares, das ansonsten hoch über ihrem graziösen
Hals festgesteckt war, hatte sich gelöst und wand sich, schlangengleich und kringelig
wie bei einem Kind, um ein absolut vollkommenes, kleines Ohr.
    In späteren Jahren
wurde Lady Duckworths blondes Haar grau, ohne seine dichte Fülle oder seinen intensiven
Glanz einzubüßen; ihre Brüste, obwohl so häufig und ausgiebig entblößt, hingen nie
nach unten. Dr. Daruwalla war glücklich verheiratet. Trotzdem hätte er – sogar seiner
lieben Frau gegenüber – zugegeben, daß er in Lady Duckworth verliebt war; er hatte
sich schon als Kind in ihre Fotografien und in ihre Geschichte verliebt.
    Aber manchmal stimmte
es den Doktor auch traurig, wenn er zuviel Zeit im Tanzsaal verbrachte und sich
die Fotografien der ehemaligen Clubmitglieder ansah. Die meisten waren inzwischen
gestorben. Sie waren, wie die Zirkusleute von ihren Toten sagen, ohne Netz abgestürzt.
Wenn sie von den Lebenden sprachen, kehrten sie den Ausdruck um. Sooft sich Dr.
Daruwalla nach Vinods Gesundheit erkundigte – er versäumte [42]  auch nie nachzufragen,
wie es der Frau des Zwergs ging –, antwortete Vinod stets: »Wir fallen noch immer
ins Netz.«
    Von Lady Duckworths
Brüsten hätte Farrokh – zumindest aufgrund der Fotos – behauptet, daß sie noch immer
ins Netz fielen. Vielleicht waren sie ja unsterblich.
    Mr. Lal hat das Netz verfehlt
    Und dann
plötzlich riß ein kleiner und scheinbar unbedeutender Vorfall Dr. Daruwalla aus
seinem verzückten Nachsinnen über Lady Duckworths Busen. Der Doktor müßte schon
einen Zugang zu seinem Unterbewußtsein haben, wollte er sich später daran erinnern,
denn es handelte sich lediglich um eine winzige Turbulenz im Speisesaal, die seine
Aufmerksamkeit erregte. Eine Krähe, die etwas Glänzendes im Schnabel hielt, war
durch die offene Verandatür hereingeschwirrt und verwegen auf dem breiten, ruderblattähnlichen
Flügel eines Deckenventilators gelandet. Zwar brachte sie das Ding in eine bedenkliche
Schieflage, aber sie drehte Runde um Runde auf dem Flügel und kleckerte dabei gleichmäßig
im Kreis – auf den Boden, auf einen Teil des Tischtuchs und auf einen Teller Salat,
haarscharf neben die Gabel. Ein Kellner wedelte mit seiner Serviette, und die Krähe
flog auf, entwischte mit heiserem Krächzen durch die Verandatür und schwang sich
über dem Golfplatz, der glänzend in der Mittagssonne lag, in den Himmel. Was immer
sie im Schnabel gehabt hatte, war verschwunden,

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