Zirkuskind
verschluckt vielleicht. Erst stürzten
die Kellner und Hilfskellner herbei, um das beschmutzte Tischtuch und das Gedeck
auszuwechseln, obwohl es ohnehin noch zu früh für den Lunch war; dann wurde ein
Hausdiener gerufen, um den Boden aufzuwischen.
Da Dr. Daruwalla
am frühen Morgen operierte, aß er eher zu Mittag als die meisten Duckworthianer.
Er hatte sich mit [43] Inspector Dhar für halb eins zum Lunch verabredet. Der Doktor
schlenderte in den Ladies’ Garden, wo er eine Lücke in der dicht zugewachsenen Laube
entdeckte, die den Blick auf ein Stück Himmel über dem Golfplatz freigab; dort machte
er es sich in einem rosafarbenen Korbstuhl bequem. Als er sich hinsetzte, wurde
ihm offenbar sein kleiner Schmerbauch bewußt, denn er bestellte sich ein London
Diätbier, obwohl er eigentlich Lust auf ein Kingfisher Lager hatte.
Zu seiner Überraschung
sah Dr. Daruwalla abermals einen Geier (möglicherweise denselben) über dem Golfplatz;
nur flog er diesmal in geringerer Höhe, als befände er sich nicht auf dem Weg zu
den Türmen des Schweigens oder käme von dort, sondern als wollte er landen. Da der
Doktor wußte, wie vehement die Parsen ihre Bestattungsrituale verteidigten, belustigte
ihn der Gedanke, daß sie womöglich alles, was irgendeinen Geier irgendwie ablenken
könnte, als Kränkung empfanden. Vielleicht war ein Pferd auf der Rennbahn von Mahalaxmi
tot umgefallen, vielleicht hatte in Tardeo jemand einen Hund getötet, oder bei Hadschi
Alis Grabmal war eine Leiche angespült worden. Wie auch immer, dieser Geier vernachlässigte
jedenfalls seine heilige Pflicht in den Türmen des Schweigens.
Dr. Daruwalla blickte
auf die Uhr. Er erwartete seinen Freund jeden Augenblick zum Lunch; er nippte an
seinem London Diätbier und versuchte sich einzubilden, es sei ein Kingfisher Lager;
und er stellte sich vor, daß er wieder schlank war. (Dabei war er nie wirklich schlank
gewesen.) Während der Doktor den Geier beobachtete, der in präzisen Spiralen zur
Landung ansetzte, gesellte sich ein zweiter Geier dazu, und dann noch einer, so
daß Dr. Daruwalla unwillkürlich ein Schauder über den Rücken lief. Er vergaß völlig,
sich seelisch darauf vorzubereiten, daß er Inspector Dhar eine schlechte Nachricht
überbringen mußte. So fasziniert betrachtete er den Vogel, daß er gar nicht mitbekam,
wie sein gutaussehender jüngerer Freund [44] mit der für ihn typischen unheimlichen
Lautlosigkeit und Eleganz auftauchte.
Dhar legte Dr. Daruwalla
die Hand auf die Schulter und sagte: »Da draußen liegt ein Toter, Farrokh. Wer ist
das?« Dies bewog einen neuen Kellner – denselben, der die Krähe vom Ventilator verjagt
hatte –, eine Suppenterrine samt Schöpfkelle fallen zu lassen. Der Kellner hatte
Inspector Dhar natürlich erkannt; der Schock rührte daher, daß er den Filmstar ohne
den leisesten Hindi-Akzent hatte sprechen hören. Das scheppernde Klirren rief Mr.
Bannerjee auf den Plan.
»Die Geier landen
auf dem neunten Green!« rief er, während er auf Dr. Daruwalla und Inspector Dhar
zustürzte und beide am Arm packte. »Ich glaube, es ist der arme Mr. Lal! Er muß
in den Bougainvilleensträuchern gestorben sein!«
Dr. Daruwalla flüsterte
Dhar etwas zu. Der verzog keine Miene, als Farrokh sagte: »Das fällt in Ihr Fach,
Inspector.« Wieder so ein Scherz, der für den Doktor typisch war. Trotzdem ging
Dhar, ohne zu zögern, voraus über den Fairway. Bald war ein Dutzend dieser zähen
Vögel zu sehen, die in ihrer wenig einnehmenden Art umherflatterten und -hopsten
und das neunte Green beschmutzten. Sie reckten ihre langen Hälse in die Luft und
tauchten dann damit in die Bougainvilleen ein; ihre höckrigen Schnäbel waren mit
hellrotem Blut bespritzt.
Mr. Bannerjee weigerte
sich, das Green zu betreten, und Dr. Daruwalla war erstaunt über den Verwesungsgeruch,
der von den Geiern ausging; überwältigt blieb er kurz vor der Fahne des neunten
Lochs stehen. Doch Inspector Dhar marschierte zwischen den stinkenden Vögeln hindurch
und geradewegs in die Bougainvilleen hinein. Die Geier ringsum flogen auf und davon.
Mein Gott, dachte Farrokh, er benimmt sich wie ein echter Polizeiinspektor – dabei
ist er nur ein Schauspieler, aber das ist ihm gar nicht klar!
Der Kellner, der
die Krähe vom Deckenventilator verjagt [45] und, weniger erfolgreich, mit Suppenterrine
und Schöpflöffel gerungen hatte, folgte den aufgeregten Duckworthianern ein Stück
weit auf den Golfplatz, kehrte jedoch in den
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