Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
häufig von der lausigen Bauweise der Häuser – abbröckelnder Putz und
dergleichen. Aber Dr. Daruwalla kehrte nur selten während der Monsunmonate nach
Indien zurück, die in Bombay die »primitivsten« waren. Außerdem neigte Farrokh gegenüber
seinen Mitbürgern in Toronto dazu, die Tatsache, daß er nie lange in Indien blieb,
herunterzuspielen.
    In Toronto schilderte
der Doktor seine Kindheit (in Bombay) sowohl farbenfroher als auch typischer indisch,
als sie in Wirklichkeit gewesen war. Er hatte als Junge die (von Jesuiten geführte)
St. Ignatius-Schule in Mazgaon besucht und in seiner Freizeit die Vorzüge organisierter
Sport- und Tanzveranstaltungen im Duckworth Club genossen. Zum Studium schickten
ihn seine Eltern nach Österreich. Selbst die acht Jahre in Wien, wo er Medizin studierte,
verliefen zahm und unter Aufsicht – er wohnte die ganze Zeit bei seinem älteren
Bruder.
    Doch im Tanzsaal
des Duckworth Club, in der hehren Umgebung dieser Porträts verblichener Mitglieder,
konnte sich Dr. Daruwalla vorübergehend einbilden, daß er wirklich von irgendwoher
kam und irgendwo hingehörte. Mit zunehmendem Alter – er war jetzt fast sechzig –
sah er (freilich nur im stillen) ein, daß er in Toronto oft indischer auftrat, als
er in Wirklichkeit war. Er konnte von einer Sekunde auf die andere einen Hindi-Akzent
annehmen oder ihn ablegen, je nachdem, mit wem er es zu tun hatte. Nur ein anderer
Parse hätte gemerkt, daß Englisch die eigentliche Muttersprache des Doktors war
und er sein Hindi in der Schule gelernt hatte. Umgekehrt wurde sich Farrokh in Indien
schamvoll bewußt, wie betont europäisch oder nordamerikanisch er sich hier gab.
In Bombay verschwand sein Hindi-Akzent, und wer ihn englisch sprechen hörte, mußte
annehmen, daß er sich in Kanada vollständig assimiliert hatte. In Wirklichkeit fühlte
sich Dr. Daruwalla nur [39]  inmitten der alten Fotografien im Tanzsaal des Duckworth
Club zu Hause.
    Die Geschichte von
Lady Duckworth kannte Dr. Daruwalla nur vom Hörensagen. Auf den beeindruckenden
Fotos, die es von ihr gab, waren ihre Brüste angemessen, wenn auch etwas spärlich
bedeckt. In der Tat zeigten die Bilder von Lady Duckworth einen hohen, ansehnlichen
Busen, selbst als die Dame schon in recht fortgeschrittenem Alter war; und ihre
Entblößungsmanie soll mit den Jahren sogar noch zugenommen haben. Angeblich waren
ihre Brüste auch noch jenseits der Siebzig durchaus wohlgestaltet (und wert, enthüllt
zu werden).
    Mit fünfundsiebzig
hatte sie sich auf der kreisrunden Auffahrt zum Club vor einer Schar junger Leute
entblößt, die zum Ball der Söhne und Töchter von Mitgliedern kamen. Die Folge dieses
Vorfalls war eine Massenkarambolage, die angeblich dazu führte, daß die Betonschwellen
entlang der Zufahrt erhöht wurden. Nach Farrokhs Ansicht hielt man sich im Duckworth
Club beharrlich an das Tempo, das die Schilder an beiden Enden der Auffahrt vorschrieben: GANZ
LANGSAM! Doch
das war Dr. Daruwalla eigentlich ganz recht; er empfand die Vorschrift, GANZ LANGSAM zu fahren, keineswegs als Zumutung,
bedauerte es allerdings, daß es ihm nicht vergönnt gewesen war, wenigstens einen
Blick auf Lady Duckworths längst verblichene Brüste zu werfen. Zu ihrer Zeit hatte
sich der Club sicher nicht so langsam bewegt.
    Dr. Daruwalla stieß,
wie sicher schon hundertmal, einen lauten Seufzer im leeren Tanzsaal aus und sagte
leise zu sich selbst: »Das waren die guten alten Zeiten.« Aber es war nur ein Scherz;
er meinte es nicht ernst. Diese »guten alten Zeiten« waren für ihn ebenso unergründlich
wie Kanada – seine kalte Wahlheimat – oder Indien, wo er nur so tat, als würde er
sich wohlfühlen. Außerdem sprach oder seufzte Farrokh nie so laut, daß ihn jemand
hörte.
    [40]  Er stand in dem
weitläufigen, kühlen Saal und horchte: Er hörte die Kellner und Hilfskellner im
Speisesaal, die die Tische für den Lunch deckten; er hörte das Klacken und Anschlagen
der Billardkugeln und das entschiedene, gebieterische Klatschen der Spielkarten,
die an einem der Tische aufgedeckt wurden. Es war bereits nach elf Uhr, zwei Unermüdliche
spielten noch immer Tennis; dem weichen, gemächlichen Ploppen des Balls nach zu
schließen, war es kein sonderlich schwungvolles Match.
    Das Gefährt, das
die Zufahrtsstraße entlangraste und mit Hingabe über jede Bremsschwelle ratterte,
gehörte ohne Zweifel dem Obergärtner, denn es folgte das dröhnende Klappern von
Hacken und Rechen und Spaten, und dann ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher