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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind
Autoren: John Irving
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Weihnachtsbaums;
Dr. Daruwalla versuchte, ihre verschiedenen Farben zu zählen. Diese bunten Lichter
hinter der Fensterscheibe erinnerten ihn an Licht, das von Pailletten zurückgeworfen
wird – dieses auf die Trikots der Zirkusartisten aufgenähte Glitzern. Gab es etwas
so Wunderbares wie dieses reflektierte Licht? überlegte Farrokh.
    Ein Auto fuhr vorbei.
Es drohte den Zauber zu brechen, von dem der Doktor umfangen war, denn von der Ecke
Lonsdale und Russell Hill Road aus betrachtet, befand sich Dr. Daruwalla am anderen
Ende der Welt. »Geh nach Hause«, rief ihm jemand aus dem Fenster des vorbeifahrenden
Autos zu.
    Seltsamerweise hörte
der Doktor es nicht, denn sonst hätte er dem anderen klargemacht, daß das einfacher
gesagt war als getan. Andere Geräusche, die aus dem Fenster des fahrenden Autos
drangen, wurden vom Schnee erstickt – verklingendes Gelächter, möglicherweise ein
rassistischer Seitenhieb. Aber [970]  von alledem bekam Dr. Daruwalla nichts mit. Seine
Augen waren vom Weihnachtsbaum hinter dem Fenster nach oben gewandert. Erst blinzelte
er in die fallenden Schneeflocken, und dann schloß er die Augen; kühl legte sich
der Schnee auf seine Lider.
    Farrokh sah den
elefantenfüßigen Jungen in seinem Trikot mit den grünblauen Pailletten vor sich
– so, wie der kleine Betteljunge im wirklichen Leben nie gekleidet gewesen war.
Farrokh sah Ganesh im Scheinwerferlicht herabgleiten, im Zahnhang herunterwirbeln.
Das war das Ende eines weiteren erfolgreichen Deckenlaufs, der in Wirklichkeit nie
stattgefunden hatte und nie stattfinden würde. Der echte Krüppel war tot; nur in
der Phantasie des ehemaligen Drehbuchautors durchquerte Ganesh die Zirkuskuppel.
Wahrscheinlich würde der Film nie gedreht werden. Doch vor seinem inneren Auge sah
Farrokh den Elefantenjungen, ohne zu hinken, über den Zelthimmel laufen. Für Dr.
Daruwalla war dies Wirklichkeit; so wirklich wie das Indien, von dem er glaubte,
er hätte es hinter sich gelassen. Jetzt erkannte er, daß es seine Bestimmung war,
Bombay wiederzusehen. Farrokh wußte, daß es keine Flucht aus Maharashtra gab.
    Und da wußte er,
daß er zurückkehren würde – wieder und immer wieder. Es war Indien, das ihn immer
wieder zurückrief; beim nächstenmal würden die Zwerge nichts damit zu tun haben.
Das erkannte der Doktor so deutlich, wie er den Applaus für Ganeshs Deckenlauf hören
konnte. Er hörte die Leute klatschen, während der Elefantenjunge im Zahnhang herabschwebte;
er konnte hören, wie sie dem Krüppel zujubelten.
    Julia, die angehalten
hatte und auf ihren geistesabwesenden Mann wartete, drückte auf die Hupe. Aber Dr.
Daruwalla hörte sie nicht. Er lauschte dem Applaus – er war noch immer im Zirkus.

Foto: © Jane Sobel Klonsky
     
    JOHN IRVING , 1942 in Exeter, New Hampshire, geboren, wusste als
19-Jähriger genau, was er wollte: Ringen und Romane schreiben. Bis zum
Durchbruch von Garp trainierte er an amerikanischen
Universitäten Ringermannschaften und zukünftige Schriftsteller.  Im Jahre 2000 erhielt John Irving den Oscar
für die beste Drehbuchadaption für den Film Gottes Werk und
Teufels Beitrag. 2001 wurde er als Mitglied in die ›American Academy of
Arts and Letters‹ aufgenommen. Er lebt heute im südlichen Vermont.
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