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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind
Autoren: John Irving
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sich nur noch
vage daran erinnern, dieses Foto gemacht zu haben.
    [958]  Unter den gegebenen
Umständen hielt Farrokh es für geboten, eine Widmung auf die Rückseite des Fotos
zu schreiben. Deepa brauchte nicht an die Gelegenheit erinnert zu werden, bei der
es aufgenommen worden war – sie lag damals in derselben Klinik auf der Mädchenstation
und erholte sich von der von Dr. Daruwalla vorgenommenen Hüftoperation. Inspiriert
von John D.s Epitaph für Vinod spann der Doktor das Thema mit dem verbotenen Aufzug
weiter. »Endlich darf er den Aufzug benutzen«, schrieb er, denn obwohl Vinod das
Netz verfehlt hatte, war er den Vorschriften der Hausbewohnergemeinschaft endgültig
entronnen.
    Nicht die Zwerge
    Wie würde
die Nachwelt Dr. Daruwalla in Erinnerung behalten? Natürlich als guten Arzt, auch
als guten Ehemann und guten Vater – alles in allem als einen guten Menschen, aber
nicht als großartigen Schriftsteller. Ob er die Bloor Street entlangging oder an
der Avenue Road in ein Taxi stieg, fast niemand, der ihn sah, hätte sich weiter
Gedanken über ihn gemacht, denn er wirkte völlig assimiliert. Ein gutgekleideter
Einwanderer, ein netter, naturalisierter Kanadier – vielleicht auch ein gutsituierter
Tourist. Obwohl er klein war, hätte man sein Gewicht beanstanden können. Ein Mann
in der zweiten Lebenshälfte tat gut daran, auf seine Linie zu achten. Trotzdem machte
er einen distinguierten Eindruck.
    Manchmal wirkte
er ein bißchen müde, vor allem um die Augen, oder erweckte den Eindruck, als würden
seine Gedanken, die er meist für sich behielt, in weite Ferne schweifen. Niemand
hätte ergründen können, was für ein Leben er führte, denn dieses Leben spielte sich
hauptsächlich in seinem Kopf ab. Möglicherweise war das, was wie Müdigkeit aussah,
nur der [959]  Preis für seine lebhafte Phantasie, die nie das ersehnte Ventil fand.
    In der Aids-Sterbeklinik
würde man Farrokh stets, vorwiegend liebevoll, als Dr. Balls in Erinnerung behalten.
Der einzige Patient, der seinen Tennisball hatte herumhüpfen lassen, anstatt ihn
zusammenzupressen, hatte die Krankenschwestern und das übrige Personal nicht lange
genervt. Wenn ein Patient starb, bekam Dr. Daruwalla dessen Tennisball zurück. Der
Doktor hatte nur einen kurzen Anfall von Religiosität gehabt, und der war inzwischen
abgeklungen. Doch die Tennisbälle ehemaliger Patienten waren ihm geradezu heilig.
    Anfangs wußte er
nicht recht, was er mit den alten Bällen anfangen sollte; er brachte es weder fertig,
sie wegzuwerfen, noch mochte er sie neuen Patienten geben. Schließlich entledigte
er sich ihrer auf eine recht merkwürdige Art, die fast an ein Ritual erinnerte.
Er vergrub sie in Julias Kräutergarten, wo sie gelegentlich von Hunden ausgebuddelt
wurden. Daß am Schluß die Hunde mit den Tennisbällen spielten, störte Dr. Daruwalla
nicht; für ihn war das ein angemessenes Ende dieser alten Bälle – ein erfreulicher
Kreislauf.
    Julia nahm die Schäden
im Kräutergarten gelassen hin; schließlich war das nicht die einzige Schrulle ihres
Mannes. Sie respektierte sein reiches, verborgenes Innenleben und rechnete jederzeit
damit, daß es nach außen hin verwirrende Auswirkungen hatte; sie wußte, daß Farrokh
ein introvertierter Mensch war. Er war schon immer ein Träumer gewesen, und jetzt,
da er nicht mehr schrieb, träumte er eben ein bißchen mehr.
    Einmal hatte Farrokh
zu Julia gesagt, er frage sich manchmal, ob er ein Avatara sei. In der hinduistischen
Mythologie ist ein Avatara ein göttliches Wesen, das in fleischgewordener, personifizierter
Form auf die Erde herabsteigt. Glaubte Dr. Daruwalla wirklich, daß er die Inkarnation
eines Gottes war?
    »Und an welchen
Gott denkst du dabei?« fragte ihn Julia.
    [960]  »Das weiß ich
nicht«, antwortete Farrokh demütig. Sicher war er nicht Lord Krishna, »der Schwarze«
– ein Avatara von Vishnu. Aber wessen Avatara glaubte er wohl zu sein? Der Doktor
war ebensowenig die Inkarnation eines Gottes, wie er Schriftsteller war. Er war,
wie die meisten Männer, im Grunde ein Träumer.
    Am besten kann man
ihn sich an einem verschneiten Abend vorstellen, an dem sich schon früh die Dunkelheit
über Toronto gesenkt hat. Schnee stimmte ihn immer melancholisch, denn als seine
Mutter starb, hatte es die ganze Nacht geschneit. Wenn es morgens draußen schneite,
ging Farrokh ins Gästezimmer, in dem Meher entschlafen war, und setzte sich dort
nieder. Im Schrank hingen noch Kleider von ihr, und ihre
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