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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind
Autoren: John Irving
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Nile Ltd. kaum für die Lebenshaltungskosten
seiner Frau und seines Sohnes ausreichten. Aber Shivajis Erfolg im Great Royal Circus
würde den Lebensunterhalt des jungen Zwergs und seiner Mutter gewährleisten, und
außerdem hatte Deepa vor einiger Zeit eine beträchtliche Erbschaft gemacht. Zu ihrer
Überraschung war sie in Mr. Gargs Testament mehr als nur erwähnt worden. (Der Säuremann
war knapp ein Jahr nach der Abreise der Daruwallas aus Bombay an Aids gestorben.)
Die Bestände des Wetness Cabaret waren im Vergleich zu Vinods Blue Nile Ltd. gewaltig
gewesen. Deepa hatte so viele Anteile an dem Amüsierlokal, daß sie es schließen
lassen konnte.
    [956]  Exotischer Tanz
hatte nie richtigen Striptease bedeutet – echte Striplokale waren in Bombay verboten.
Was im Wetness Cabaret als exotisches Tanzen galt, war nie über Andeutungen hinausgegangen.
Die Klientel war, wie Muriel einmal bemerkt hatte, ausgesprochen übel, aber daß
einmal ein Besucher eine Orange nach ihr geworfen hatte, lag daran, daß die exotische
Tänzerin ihre Kleider nicht hatte ablegen wollen. Muriel war eine Stripperin, die
nicht strippte, genau wie Garg ein Barmherziger Samariter gewesen war, der eben
doch keiner war – so jedenfalls sah Dr. Daruwalla die Sache.
    Es gab ein Foto
von Vinod, das in einem Rahmen auf John D.s Schreibtisch in Zürich stand. Es stammte
nicht aus seiner Zeit als Taxifahrer, aus der der ehemalige Inspector Dhar Vinod
hauptsächlich kannte; es war eine alte Fotografie aus dem Zirkus, die von jeher
John D.s Lieblingsbild von Vinod gewesen war. Der Zwerg hat sein Clownkostüm an;
die ausgebeulte, gepunktete Hose ist so kurz, daß Vinod aussieht, als stünde er
auf den Knien. Er trägt ein ärmelloses Oberteil, eine Art Muscle Shirt – mit spiralförmigen
Streifen –, und grinst in die Kamera; sein Lächeln wird durch das aufgemalte Lächeln,
das bis zu seinen strahlenden Augen hinaufreicht, noch vergrößert.
    Unmittelbar neben
Vinod, mit dem Profil zur Kamera, steht ein Nilpferd mit aufgerissenem Maul. Schockierend
an dem Foto ist die Tatsache, daß der komplette, aufrecht stehende Zwerg leicht
in das gähnende Maul des Nilpferds passen würde. Die zwei gewaltigen Hauer im Unterkiefer
befinden sich in Vinods Reichweite und sind so lang wie die Arme des Zwergs. Bei
dieser Gelegenheit mußte der kleine Clown den warmen Dunst aus dem Nilpferdmaul
gespürt haben – den nach fauligem Gemüse riechenden Atem, die Nachwirkungen der
Salatköpfe, mit denen Vinod das Nilpferd immer gefüttert hatte; der Koloß hatte
die Köpfe ganz hinuntergeschluckt. »Wie Trauben«, hatte der Zwerg erzählt.
    [957]  Nicht einmal
Deepa konnte sich daran erinnern, wie lange es im Great Blue Nile schon kein Nilpferd
mehr gegeben hatte; als die Frau des Zwergs zum Zirkus kam, war es bereits tot.
Nach dem Tod des Zwergs schrieb John D. mit Schreibmaschine ein Epitaph für Vinod
auf den unteren Rand des Nilpferdfotos. Es war eindeutig im Gedenken an den verbotenen
Aufzug entstanden – jenen elitären Lift, den der Zwerg offiziell nie hatte benutzen
dürfen. Derzeit
in Begleitung von Kindern, lautete der Gedenkspruch.
    Kein schlechtes
Epitaph, fand der pensionierte Drehbuchautor. Er hatte es zu einer beachtlichen
Sammlung mit Fotos von Vinod gebracht, die dieser ihm im Lauf der Jahre fast alle
geschenkt hatte. Als Dr. Daruwalla Deepa einen Beileidsbrief schrieb, wollte er
ein Foto dazulegen, von dem er hoffte, daß es der Frau und dem Sohn des Zwergs gefallen
würde. Die Auswahl war schwierig, weil er so viele Bilder von Vinod hatte – im Kopf
hatte er natürlich noch viel mehr.
    Während Farrokh
für Deepa ein passendes Foto von Vinod suchte, schrieb ihm die Frau des Zwergs.
Es war nur eine Postkarte aus Ahmedabad, wo der Great Royal gastierte, aber für
Dr. Daruwalla war entscheidend, daß sie an ihn gedacht hatte. Sie hatte dem Doktor
mitteilen wollen, daß es ihr und Shivaji gutging. »Wir fallen noch immer ins Netz«,
schrieb sie.
    Das half Farrokh,
das richtige Foto auszusuchen: ein Bild von Vinod in der Klinik für Verkrüppelte
Kinder, wo er sich nach dem Unfall mit der Wippe von seiner Operation erholte. Darauf
war Vinods Lächeln nicht mit einem lachenden Clownsmund übermalt; sein natürliches
Lächeln reichte völlig aus. In seiner wurstfingrigen Dreizackhand hielt der Zwerg
die berühmte Liste mit all den Dingen, die er konnte, unter anderem auch Autofahren.
Er hielt sozusagen seine Zukunft in der Hand. Dr. Daruwalla konnte
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