Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
[ Menü ]
    1
    V AN DER ELST MACHTE SICH SORGEN wegen eines Afrikaners, der schon seit Stunden draußen vor dem Hotel stand. Jensen hingegen machte sich Sorgen um Van der Elst. Er verstand nicht, weshalb die Hotelleitung einem so jungen Burschen, dem noch die Muttermilch die Wangen rötete, die Verantwortung für das ganze Haus aufbürdete. Van der Elst musste das De Tuilerieën allein durch den Winter bringen, dreißig leere Zimmer waren zu überwachen, in jedem konnten sich heimlich Männer einnisten, die zuvor draußen den Eingang beobachtet hatten.
    »Es kommt mir vor, als würde er den Eingang beobachten«, sagte Van der Elst. Er war blond, schmächtig und zu groß für das alte Hotel, dessen Türbögen für die kleinwüchsigen Menschen vergangener Jahrhunderte gebaut worden waren, die kleinen wallonischen Grafen, die kurzgewachsenen Barone und für Napoleon Bonaparte, der möglicherweise einmal hier übernachtet hatte; zumindest hätte ihm die Einrichtung gefallen. Gebückt stand Van der Elst hinter dem Tresen der Rezeption.
    »Was meinen Sie? Soll ich die Polizei anrufen? Im letzten Sommer wurde direkt vor dem Hoteleingang ein Gast überfallen.«
    Ein Italiener, dachte Jensen. Er legte seinen Zimmerschlüssel auf den Tresen. Er konnte sich nur noch an den Vornamen erinnern, Benedetto, ein Tourist aus Mailand.Jemand hatte ihn mit einem abgesägten Besenstiel niedergeschlagen und ihm Brieftasche und Pass gestohlen.
    »Ich bin ja für die Sicherheit der Gäste verantwortlich«, sagte Van der Elst, und seine langen, dichten Wimpern taten einen Flügelschlag.
    Der Täter war nie gefasst worden.
    Kein Wunder, dachte Jensen. Denn er selbst hatte den Fall bearbeitet, zu einer Zeit, in der er das Interesse an seinem Beruf bereits vollständig verloren und nur noch die Tage bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst gezählt hatte, von hundert rückwärts auf null.
    Jensen warf einen Blick in die Richtung, in die Van der Elst beständig deutete. Nur zwei verglaste Doppeltüren trennten das Hotel von jenem Mann, der draußen in höflichem Abstand vor dem Eingang stand, bei acht Minusgraden, im kältesten Brügger Winter seit vierundfünfzig Jahren. Der Mann stapfte von einem Fuß auf den anderen, um warmes Blut in die Zehen zu pumpen. Trug er Turnschuhe? Es sah so aus. Turnschuhe und einen Regenmantel, wenig Schutz bei einem Kälterekord.
    »Er ist wohl eher für sich selbst eine Gefahr«, sagte Jensen und wandte sich wieder Van der Elst zu. Wie lange bin ich schon hier?, dachte Jensen. Vier Tage? Und die Uhr über dem Schlüsselbrett funktionierte immer noch nicht. Der Minutenzeiger rastete auf der halben Stunde ein, sprang dann aber wieder eine Minute zurück. Seit vier Tagen war das so. Die Uhr war eine Zumutung für Gäste, die das Gefühl hatten, nicht vorwärtszukommen.
    »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Van der Elst, er wurde rot. »Ich habe nichts gegen Schwarze, nicht, dass Sie das denken. Meine Schwester ist mit einem …«
    »Wir haben alle nichts gegen Schwarze«, sagte Jensen. »Und falls doch, gibt es dagegen Gesetze. Aber ich macheIhnen einen Vorschlag. Sie lassen diese Uhr da reparieren.«
    »Das habe ich schon veranlasst«, sagte Van der Elst hastig.
    »Und ich gehe in die Buchhandlung, drüben bei der Nepomucenus-Brücke. Danach werde ich eine heiße Schokolade trinken, im Den Comptoir.« Denn obwohl die defekte Uhr halb sieben anzeigte, war es erst vier Uhr, zwei Stunden zu früh für ein Bier. »Sollte der Mann dann immer noch vor dem Hotel stehen, werden wir etwas unternehmen. In seinem eigenen Interesse.«

    Als Jensen das De Tuilerieën verließ, blickte er beiläufig zu dem Mann hinüber. Es gab vorläufig keinen Grund, ihn anzusprechen. Natürlich war es merkwürdig, dass er bei dieser Kälte, bei der einem beim Einatmen lockere Zahnplomben und kariöse Stellen schmerzhaft bewusst wurden, stundenlang auf demselben Fleck stand. Aber sich selbst zu quälen war nicht verboten. Jensen meinte zu erkennen, dass die Haltung des Mannes sich, als ihre Blicke sich trafen, veränderte; das Bild eines Rehs, das die Ohren spitzt, stand ihm vor Augen.
    Er wartet auf jemanden, der ihn wahrnimmt, dachte Jensen. Ein armer Kerl, Einwanderer, Alkohol, Sehnsucht, irgendetwas in der Art.
    Jensen schlug den Weg zur Buchhandlung ein; es war nicht weit, nur hundert Schritte über vereiste Pflastersteine unter tief hängenden Wolken, denen es zum Schneien zu kalt war. Jensen war für diesen Jahrhundertwinter nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher