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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind
Autoren: John Irving
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Saris strömten noch immer
etwas von ihrem Geruch aus, dem Geruch eines fremden Landes und seiner Küche. Aber
stellen Sie sich Dr. Daruwalla im Schein einer Straßenlaterne direkt neben dem Laternenpfahl
vor, während es schneit. Stellen Sie sich ihn an der nördlichen Ecke der Kreuzung
Lonsdale und Russell Hill Road vor. Diese Kreuzung in Forest Hill hatte für Farrokh
etwas Vertrautes und Tröstliches, nicht nur, weil sie nur einen Block von seinem
Haus entfernt war, sondern weil er von dieser Kreuzung aus den Weg überblicken konnte,
den er so oft zurückgelegt hatte, wenn er seine Kinder zur Schule brachte. In der
entgegengesetzten Richtung lag die Grace Church on-the-Hill, in der er ein paar
nachdenkliche Stunden in der Geborgenheit seines einstigen Glaubens verbracht hatte.
Von dieser Straßenkreuzung aus konnte Dr. Daruwalla auch die Kapelle und die Bishop-Strachan-Schule
sehen, in der seine Töchter ihre geistigen Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatten;
und er war nicht weit vom Upper Canada College entfernt, das seine Söhne womöglich
besucht hätten – wenn er Söhne gehabt hätte. Doch wenn er es sich recht überlegte,
hatte er sogar zwei Söhne – John D. und den in Ruhestand gegangenen Inspector Dhar.
    [961]  Farrokh hob sein
Gesicht zu den fallenden Schneeflocken empor; er spürte, wie sie seine Augenwimpern
benetzten. Obwohl Weihnachten schon lange vorbei war, freute es ihn, daß einige
Nachbarhäuser noch ihren weihnachtlichen Schmuck trugen, der ihnen etwas ungewöhnlich
Farbiges und Heiteres verlieh. Der im Licht der Straßenlaterne herabfallende Schnee
rief bei Farrokh ein so blütenweißes Gefühl der Einsamkeit hervor, daß er fast vergaß,
warum er an diesem Winterabend hier an dieser Straßenkreuzung stand. Aber er wartete
auf seine Frau, die ehemalige Julia Zilk, die ihn abholen sollte. Julia kam mit
dem Auto von einer ihrer Frauengruppen; sie hatte angerufen und Farrokh gebeten,
an der Ecke zu warten. Die Daruwallas wollten in einem neuen Restaurant an der Harbourfront
zu Abend essen; Farrokh und Julia waren treue Besucher der Autorenlesungen, die
dort stattfanden. Das Restaurant selbst fand Dr. Daruwalla eher gewöhnlich; außerdem
waren sie für seinen Geschmack zu früh dran. Und Autorenlesungen konnte er ohnehin
nicht ausstehen, weil nur sehr wenige Autoren gut vorlasen. Wenn man selbst ein
Buch las, konnte man es zuklappen, ohne sich dessen schämen zu müssen, und ein anderes
zur Hand nehmen oder sich ein Video ansehen, wozu der ehemalige Drehbuchautor mehr
und mehr neigte. Nach seinem gewohnten Bier – oft trank er auch Wein zum Abendessen
– war er zu müde, um zu lesen. Er befürchtete, er könnte an der Harbourfront inmitten
der Zuhörer zu schnarchen anfangen und Julia in Verlegenheit bringen. Sie genoß
diese Lesungen, die Farrokh eher als Ausdauersport betrachtete. Oft lasen zu viele
Autoren an einem Abend, als wollten sie Kanadas verdienstvolle Kulturförderung öffentlich
unter Beweis stellen. Normalerweise gab es eine Pause, und das war der Hauptgrund,
warum Dr. Daruwalla diese Veranstaltungen besonders haßte, denn dann wurden sie
jedesmal von Julias belesenen Freunden umringt; sie kannten sich mit Literatur besser
aus als Farrokh, und das wußten sie auch.
    [962]  An diesem Abend
nun (Julia hatte ihn vorgewarnt) las ein indischer Autor aus seinem Werk, was stets
Probleme für Dr. Daruwalla aufwarf. Offensichtlich erwartete man von ihm, daß er
grundlegend zu diesem Autor »Stellung nahm«, als gäbe es ein erkennbares »Etwas«,
das der Autor entweder getroffen hatte oder nicht. Im Fall eines indischen Schriftstellers
beugten sich sogar Julia und ihre in Literatur bewanderten Freunde Farrokhs Meinung.
Folglich würde er sich gedrängt fühlen, eine Meinung zu haben und seinen Standpunkt
darzulegen. Häufig hatte er keinen Standpunkt und versteckte sich in den Pausen
– manchmal in der Herrentoilette, wie er zu seiner Schande gestehen mußte.
    Kürzlich hatte ein
ziemlich berühmter Schriftsteller, ein Parse, an der Harbourfront gelesen. Dr. Daruwalla
hatte den Eindruck, Julia und ihre Freunde erwarteten von ihm, daß er auf den Autor
zuging und ihn ansprach, denn Farrokh hatte den zu Recht gelobten Roman gelesen,
und er hatte ihm sehr gut gefallen. Die Geschichte handelte von einem unbedeutenden,
aber treuen Stützpfeiler einer Parsengemeinde in Bombay, einem liebevollen, einfühlsamen
Familienvater, dessen Rechtschaffenheit durch die politische Korruption
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