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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind
Autoren: John Irving
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davon ausgehen müssen, daß
der Junge schneller laufen konnte; außerdem würde Julia ihn jeden Augenblick auflesen
– während er vor einer Mutter und ihrem kleinen Sohn davonlief. Das wäre wirklich
zu absurd gewesen.
    In diesem Augenblick
berührte ihn der kleine Junge; er zupfte ihn sachte, aber entschlossen am Ärmel,
dann packte die winzige, in einem Fäustling steckende Hand den behandschuhten Zeigefinger
des Doktors und zog daran. Dr. Daruwalla blieb nichts anderes übrig, als zu dem
Gesicht, das mit großen Augen zu ihm aufblickte, hinunterzusehen; die blassen Wangen
des Jungen wirkten vor dem Hintergrund des blütenweißen Schnees rosig.
    »Entschuldigen Sie«,
sagte der kleine Mann. »Woher kommen Sie?«
    Nun, das ist die
Frage, nicht wahr? dachte Dr. Daruwalla. Das war schon immer die Frage. Sein ganzes
Erwachsenenleben lang war das die Frage gewesen, die er normalerweise mit der buchstabengetreuen
Wahrheit beantwortete, die er in seinem Herzen als Lüge empfand.
    »Ich komme aus Indien«,
sagte der Doktor in der Regel, aber er spürte es nicht; es hörte sich nicht wahr
an. »Ich komme aus Toronto«, sagte er manchmal, aber das hörte sich eher trotzig
als glaubwürdig an. Oder er gab eine smarte Antwort. »Ich komme aus Toronto, via
Bombay«, sagte er dann. Wenn er besonders schlau sein wollte, antwortete er: »Ich
komme aus Toronto, via Wien und Bombay.« Er konnte die Lüge noch weiter ausspinnen
– nämlich, daß er nirgendwoher kam.
    Wenn er wollte,
konnte er jederzeit seine hervorragende [968]  europäische Bildung hervorkehren; er
konnte für seine Kindheit in Bombay ein pikantes Sprach- masala kreieren, indem er seinem Akzent
jenen typischen Hindi-Beiklang verlieh; ebensogut konnte er jede Unterhaltung mit
gnadenloser, unterkühlter Torontoer Reserviertheit zunichte machen. (»Wie Sie vielleicht
wissen, gibt es in Toronto viele Inder«, konnte er sagen, wenn ihm danach zumute
war.) Dr. Daruwalla vermochte ohne weiteres den Anschein zu erwecken, als hätte
er sich überall, wo er gelebt hatte, so wohl gefühlt, wie er sich in Wirklichkeit
unwohl gefühlt hatte.
    Doch plötzlich verlangte
ihm die unschuldige Frage des Jungen eine andere Art von Wahrheit ab; auf dem Gesicht
des Kindes las Dr. Daruwalla schlichte, unverhohlene Neugier – nur den aufrichtigen
Wunsch, es zu erfahren. Außerdem rührte es den Doktor, daß der Junge seinen Zeigefinger
nicht losgelassen hatte. Er hatte gar keine Zeit, sich eine originelle oder doppeldeutige
Antwort auszudenken; gleich würde die entsetzte Mutter diesen unwiederbringlichen
Augenblick zunichte machen.
    »Woher kommen Sie?«
hatte das Kind ihn gefragt.
    Dr. Daruwalla wünschte,
er wüßte es. Noch nie hatte er ein so großes Bedürfnis gehabt, die Wahrheit zu sagen
und vor allem zu spüren, daß seine Antwort so rein und lauter war wie der ringsum
fallende Schnee. Er beugte sich zu dem Jungen hinunter, damit dieser seine Antwort
ja nicht mißverstand, erwiderte den Druck seiner vertrauensvollen Hand und sprach
klar und deutlich in die beißende Winterluft.
    »Ich komme vom Zirkus«,
sagte Farrokh, ohne nachzudenken – absolut spontan –, aber das unmittelbare Entzücken,
das aus dem breiten Lächeln und den strahlenden Augen des Kindes sprach, verriet
Dr. Daruwalla, daß er die Frage richtig beantwortet hatte. Auf dem glücklichen Gesicht
des Jungen sah er etwas, was er in seiner kalten Adoptivheimat noch nie empfunden
hatte. So bedingungslos akzeptiert zu werden war das [969]  größte Glück, das Dr. Daruwalla
(und jedem anderen farbigen Einwanderer) je widerfahren konnte.
    Dann hupte ein Auto,
und die Frau zog ihren Sohn fort. Der Vater des Jungen, der Mann dieser Frau, half
den beiden in den Wagen. Auch wenn Farrokh kein Wort von dem verstand, was die Mutter
sagte, würde er die Worte des Kindes nie vergessen. »Der Zirkus ist in der Stadt!«
sagte der Junge zu dem Mann. Dann fuhren sie weg und ließen Dr. Daruwalla stehen.
Jetzt hatte der Doktor die Straßenecke für sich.
    Julia verspätete
sich. Farrokh war in Sorge, daß sie keine Zeit mehr haben würden, vor der endlosen
Harbourfront-Lesung noch etwas zu essen. In dem Fall bräuchte er sich keine Gedanken
zu machen, daß er einschlafen und schnarchen würde; dafür würden die Zuhörer und
die bedauernswerten Autoren in den Genuß seines Magenknurrens kommen.
    Es schneite ununterbrochen.
Kein Auto kam vorbei. In einem fernen Fenster blinkten die Lichter eines
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