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Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid
Autoren: Martin Clauß
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qualvoll, leidend. Immer noch hätte er keinen Eid schwören können, dass es Lilli war, die schrie. Eines aber war sicher: Wenn es von hinter der Tür kam, dann war die Tür nicht geschlossen, sonst hätte man das Klagen nicht in dieser markerschütternden, durchdringenden Lautstärke vernommen! Er verstand jetzt auch, dass Pö nicht gegen die Fläche einer geschlossenen Tür gelaufen war, sondern gegen die Kante einer geöffneten Tür.
    „Lilli?“, rief Steffen an Pö vorbei, der sich offenbar nicht rührte. So ganz genau konnte man das in der Finsternis nicht sagen, aber er glaubte den Atem des anderen zu vernehmen, ein wenig unruhig, aber kontrolliert. Ein Echo antwortete ihm. Der Gewölbekeller – hinter der Tür schloss sich ein Raum an, der die Ausmaße eines riesigen Verlieses haben musste.
    Das Schreien brach ab, wurde wieder zu einem gedämpften Wimmern. Jemand schien eine Hand vor den Mund der Frau zu legen. „Steffen“, kam es dumpf aus dem Keller.
    „Lilli!“
    Er drängte sich an Pö vorbei, machte einen Schritt in den Raum … und etwas sprang ihm aus der Finsternis entgegen! Das Ding kreischte gellend, schlang die Arme um seinen Rumpf und hing schwer an ihm. Er wurde nicht umgeworfen, doch das Gewicht war zu groß – Steffen sank zu Boden.
    Er war nicht sicher, was genau in diesen Augenblicken geschah. Er spürte Hände an seinem Körper, schnell, zuckend, krabbelnd wie eine Schar fetter Spinnen. Haare peitschten gegen sein Gesicht – oder waren es Spinnweben? Etwas kratzte über seine Schulter, Zähne, Nägel … oder beides. Das Wesen verströmte Wärme. War es Lilli? Hatte sie den Verstand verloren?
    Oder war es etwas anderes? Das Geschöpf, das Lilli in den Keller gelockt hatte – Lilli und damit sie alle …

9
    Es machte ihr beinahe Angst, wie sehr sie ihren Auftritt genoss.
    Sie konnte sich nicht erinnern, vor der Kamera jemals diese Befriedigung genossen zu haben. Simon forderte sie zu wenig. Sie waren keine echten Schauspieler in seinem Film, nur Statisten. Sie durften nicht die ganze Bandbreite der Emotionen zeigen, die in ihnen steckte. Es war ein frustrierendes Erlebnis, mit ihm drehen zu müssen. So sehr sie seinen Intellekt und seine Kreativität bewunderten, er nutzte sie nur für seine experimentellen Aufnahmen, gab ihnen keinen Raum, um sich zu entfalten. Die ganze Zeit über hatte sich der bohrende Wunsch in ihr aufgestaut, endlich das zu sein, als was sie ihn begleitete: eine Schauspielerin!
    Es hatte sie anfangs viel Überwindung gekostet, über die Schwelle dieses Schlosses zu treten. Etwas Ungutes, Feindliches war ihr entgegengeschlagen. Sie konnte sich nicht dazu aufraffen, das, was sie sah, für bare Münze zu nehmen. Viel mehr schien das saubere, ordentliche Innere des Gemäuers eine Kulisse zu sein, durch und durch unecht. Doch dann war überraschend schnell der Punkt gekommen, wo sie genau dieses Gefühl zu genießen begann. Es kam wie ein Rausch über sie. Das Falsche, Künstliche faszinierte sie, überwältigte sie, wie ein Schauspieler von einem perfekten Bühnenbild verzaubert und in seine Rolle hineingerissen wird.
    Da waren keine Stimmen, die sie riefen, aber sie beschloss, so zu tun, als würde sie welche hören. Der hilflosen Frau in einem schaurigen Film gleich, ließ sie sich davon tragen, ließ sich anziehen, hypnotisieren. Mit jeder Miene, die sie künstlich erzeugte, mit jedem Wort, das sie hauchte, tauchte sie tiefer in ihre Rolle ein. Es war dieser seltsame Prozess, den Schauspieler immer wieder an sich feststellten – sie vermochte sich zu formen wie eine Skulptur. Eine gewisse Gestik, eine besondere Mimik weckte ein bestimmtes Gefühl, und Inneres und Äußeres wurden eins. Sie war jetzt die Frau, die gerufen wurde.
    Es war wundervoll zu sehen, wie die anderen sich täuschen ließen. Perfekte Täuschung war Ziel und Lohn des Schauspielers. Sie war glücklich gewesen, als Steffen totenbleich auf sie zukam. Und dann, im Keller, als sie an ihm hing wie ein Vampir, der sich auf sein Opfer gestürzt hatte, spürte sie den Schweiß kalt aus seinen Poren schießen, und sie fühlte seinen rasenden Herzschlag.
    Das Schwierigste war, damit aufzuhören. Die Rolle, die ihr so gut gepasst hatte wie ein eigens für sie maßgeschneidertes Kleid, wieder abzustreifen und das zu sein, was sie in Wirklichkeit war: ein langweiliges, nüchternes, erfolgloses, unbekanntes Stück Frau. Eine starke Rolle abzulegen – das war, als erwache man morgens aus einem Traum, in
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