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Zigeunerstern: Roman (German Edition)

Zigeunerstern: Roman (German Edition)

Titel: Zigeunerstern: Roman (German Edition)
Autoren: Robert Silverberg
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Viel später sollte ich dem alten Weib erneut begegnen. Als ich König wurde, war sie mir eine weise Ratgeberin, ja, wahrhaftig meine gottgesandte Fee. Damals jedoch war ich nur ein kleiner Junge und hatte noch Schwierigkeiten, Messer und Gabel zu bewältigen, und sie war die zauberische schwebende Frau, die am Tage oder in der Nacht zu mir kam, in einer Aura von hellem funkelnden Licht, mich mit der Hand berührte und flüsterte: »Du wirst es sein, der uns in die Heimat führt.«
     
     
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    Es war nicht der Versuch, meinem Geschick zu entrinnen, als ich nach Mulano ging, auch wenn dies euch so vorkommen mag. Glaubt es, oder glaubt es eben nicht, das überlasse ich euch. Ich weiß, was ich damals tat. Wie könnte man auch seinem vorbestimmten Schicksal entrinnen? Das wäre ja, als wollte jemand sagen, ich versuchte, aus meiner Haut zu schlüpfen, ich versuchte, nicht mehr zu atmen, ich versuchte, meinen Gedanken zu entkommen. Ich floh nach Mulano – vor gar nichts. Ich mühte mich nur, jenen gewaltigen Schicksalsplan zu erfüllen, von dem ich mein ganzes Leben hindurch gewusst hatte, dass es mir bestimmt war, dies zu tun. Manchmal ist es nämlich nötig, dass man mit aller Kraft in die scheinbar falsche Richtung rennt, wenn man jemals das vorgegebene Ziel zu erreichen hoffen will.
    Selbstverständlich schickte man mir aus allen Winkeln des Universums lästige Botschafter nach Mulano. Keiner kann sich in einer dermaßen kleinen Galaxis lange verborgen halten.
    Der erste Botschafter, der ankam, war ein Rom. Natürlich. Ich wäre erstaunt gewesen und wahrscheinlich auch höllisch sauer, wenn der erste, der mich aufspürte, gaje gewesen wäre. Wir Rom sind schon immer etwas schneller gewesen, wo es darum geht, den Hauch einer Spur aufzuspüren. Aber, wenn ihr Rom seid, dann wisst ihr das sowieso bereits; oder ihr solltet es immerhin wissen; und ich flehe zu jedem gerade verfügbaren Gott, dass dem so sei. Und wenn Sie nicht zu den Rom gehören – wenn Sie von der anderen Sorte sind, ein Gaje, dann kann ich Ihnen nur raten: Lesen Sie und lernen Sie! Lesen Sie und lernen Sie!
    Vor vier oder fünf Jahren, oder wann es gewesen sein mag, als ich mich entschloss, die zivilisierten Welten des Imperiums hinter mir zu lassen, und mich aufmachte, in den Schneewüsten Mulanos unterzutauchen, gab ich mir große Mühe, eine Spur zu hinterlassen. Das war schließlich nur vernünftig. Selbst wenn du nur losgezogen bist, um eine Weile ungestört nachzudenken, oder um dir die Wunden zu lecken, oder dich einfach nur einige Zeit lang zu verstecken, achtest du doch immer darauf, dass du dein patrin hinterlässt, deine Wegmarken. Denn wenn du das nicht tust, wie soll dich dann deine Familie finden können? Und wenn deine Familie dich nicht mehr finden kann, wer bist du dann noch?
    In der alten Zeit auf der verlorenen Erde erzählten die Patrins, unsere Zeichen und Zinken, von harmlosen einfachen Dingen, und sie wurden auf einfache Weise angebracht. Aber wir waren damals auch ein sehr viel schlichteres, einfacheres Volk. Einige in die Erde gekratzte Rillen, ein paar Kohlestriche an einer Wand – das genügte. Wenn dich deine Wege weit fort von den Wagen deiner kumpania führten, hinterließest du deine Zeichen, um ihnen zu sagen, wohin du gezogen warst, und um deine Familie zu leiten, wenn sie auf dem selben Pfad nachgezogen kam. Da gab es das Zeichen des Kreises mit einem Punkt in der Mitte, zwischen zwei waagerechten Strichen – (·) –, das bedeutete: »Hier leben freigebige und romfreundliche Menschen.« Und es gab die Zinken eines Kreuzes zwischen zwei Strichen – + –, was bedeutete: »Hier geben sie dir nichts.« Oder die drei Schrägstriche zwischen zwei waagerechten Strichen – /// –, und das hieß: »Den Ort haben wir schon abgegrast.« Und es gab die Zinken, die besagten, dass hier Wasser für die Pferde war, dass Schweine und Hühner frei herumliefen und nur darauf warteten, mitgenommen zu werden, oder dass an diesem Ort viele dumme Leute lebten, die sich aus der Hand lesen oder ihr Schicksal aus den Karten schlagen lassen wollten. Und natürlich konnte man dabei auch den Nachfolgenden gleich Hinweise für ihre Weissagerei hinterlassen: »Diese Frau wünscht sich einen Sohn« – »Hier sind sie sehr gierig auf Gold« – »Der alte Mann wird bald sterben«, usw.
    Das alles weiß ich nicht nur, weil es unsere Tradition ist, sondern weil ich selbst über die Pfade der alten Erde gezogen bin, jener Erde, die vor
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