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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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zärtlich und tiefgründig sein.
    In dieser Überzeugung werden wir regelmäßig durch unsere Erfahrungen bestätigt.
    Darum richten wir einen Appell an Sie.
    Es steht keine politische Theorie dahinter und auch keine philosophische Überlegung – es ist schlicht ein Appell an die Zuversicht.
    Die Verletzlichkeit birgt wider Erwarten einen Schatz, den es zu entdecken gilt. Unsere Gesellschaft kann tatsächlich gerechter und menschlicher werden, wenn wir wieder an den tieferen Sinn der Solidarität anknüpfen. Denn nur sie bietet eine Antwort auf die fundamentale Frage nach dem Sinn des Lebens.

DIE ERFAHRUNG DER VERLETZLICHKEIT:
WER SIND WIR?
     

Philippe Pozzo di Borgo: der Insider
     
    Jean Vanier und Laurent de Cherisey setzen sich aus freien Stücken für Menschen mit Behinderung ein. Das trifft auf mich überhaupt nicht zu. Mein Engagement ist weder beabsichtigt gewesen noch freiwillig entstanden. Ich bekam eines Tages mit voller Wucht einen Schlag ab, der mich unvermittelt in eine Welt der Brüche und Erniedrigungen stürzte. Dennoch habe ich daraus wider Erwarten neue Kraft geschöpft, die ich den »zweiten Atem« nenne.
    Früher nahm ich behinderte Menschen nicht einmal wahr, genauso wenig wie alte. Ich hielt den Blick fest auf mein Ziel gerichtet und schenkte all denen, die auf der Strecke geblieben waren, keine Beachtung. Im Jahr 1993 verunglückte ich mit dem Gleitschirm und zerbrach gleichsam in tausend Teile. Mit 42 Jahren war ich auf einmal querschnittsgelähmt, vom Hals abwärts. Ich kann mich weder bewegen noch die Menschen, die ich liebe, berühren.
    Alles, was vorher selbstverständlich war, wurde mir genommen.
     
    Zum Zeitpunkt des Unfalls war ich Geschäftsführer des Champagnerunternehmens Pommery. Als ich aus dem Koma erwachte, wollte ich meine Stelle sofort wieder antreten, doch das wurde abgelehnt. Urplötzlich verlor ich meine soziale Funktion und fühlte mich vollkommen nutzlos. Finanziell hatte ich keine Probleme, psychisch sah es ganz anders aus. Abdel Sellou, mein unangepasster, frisch aus dem Gefängnis entlassener Schutzteufel, trat ein Jahr vor dem Tod meiner Frau Béatrice in mein Leben. Ohne ihn wäre ich jämmerlich zugrunde gegangen. Der Film Ziemlich beste Freunde basiert auf unserer Beziehung. 6
    Durch die jahrelange Erfahrung der Verletzlichkeit und durch die Begegnung mit Abdel, der auf einer anderen Ebene mit einer nicht weniger schmerzlichen Behinderung konfrontiert war, habe ich die Zuversicht entdeckt. Damit meine ich nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Zukunft, sondern einen zweiten Atem. Es ist ein längerer Atem, vergleichbar mit dem, den die Marathonläufer kennen. Er baut einen wieder auf, verhilft zu mehr Sicherheit und erlaubt es einem, das Leben als Behinderter voll und ganz zu leben.
    Ich habe begriffen, dass ich meinen Beitrag zu dieser Gesellschaft leisten kann, damit sie stark wird, weil sie den Verletzlichsten unter uns einen Platz einräumt. Als unbeweglicher Krieger – so der großartige Titel des Buchs von Bertrand Besse-Saige, ebenfalls Tetraplegiker – habe ich die Ernennung zum Ehrenvorsitzenden des Vereins Simon de Cyrène akzeptiert und unterstütze Wohnprojekte, in denen Menschen mit und ohne Behinderung zusammenleben, um alle Verschiedenheiten miteinander in Einklang zu bringen.

Jean Vanier: der Pionier eines Lebens in der Gemeinschaft
     
    Ich hatte nie die Absicht, eine Gemeinschaft zu gründen, doch in meinem Hinterkopf gab es immer die Idealvorstellung einer Welt, in der die Menschen glücklich miteinander leben und zusammen feiern.
    Als ich 1964 ein Haus in Trosly-Breuil bei Compiègne kaufte und drei Menschen mit einer geistigen Behinderung einlud, aus ihrer Einrichtung zu mir zu ziehen, war mir klar, dass diese Entscheidung mein Leben unwiderruflich verändern würde. Damals wurden viele von ihnen noch in geschlossenen Anstalten untergebracht oder von ihren Eltern versteckt. Ich lernte sogar einmal einen Jugendlichen kennen, der in der Garage des elterlichen Hauses angekettet worden war. Ich gab meinem Projekt den Namen Arche, weil Noah, dessen Geschichte in der Bibel und im Koran erzählt wird, mit diesem Schiff seine Familie und alle Tierarten vor der Sintflut rettete.
    Dabei hatte ich ursprünglich keinerlei besondere Veranlagung, mich Menschen mit geistiger Behinderung anzunehmen.
    Durch die militärische und diplomatische Laufbahn meines Vaters, eines Generals der kanadischen Armee, zogen wir in meiner Kindheit häufig
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