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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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ihrer Mutter, bestimmt gehörten sie zu Ippazio, sie wollte sehen, woher die Teile ihres Körpers kamen. Arianna konnte nicht mehr warten, die Zeit der Geheimnisse hatte sich erschöpft.
    »Mama, raus mit der Wahrheit, was hast du ihm gesagt, warum hast du ihn nicht mitkommen lassen?«
    »Weil es so besser ist …«
    »Verdammt, Mama, hör auf damit, was besser für mich ist. Ich bin dreißig, fast Ärztin, und du behandelst mich noch immer wie ein kleines Mädchen … ich glaube, jetzt ist endlich der Moment gekommen, dass ich erfahre, was hier los ist.«
    Sie beendete die Aufzählung ihrer Forderungen nicht, denn schon war sie auf dem Weg, auf dem ihre Mutter heraufgekommen war. Mimi rief ihr hinterher, Arianna aber stieg, erfüllt von wilder Entschlusskraft, in das Schwarz des Gestrüpps hinauf, das zum Aussichtspunkt führte. Die einzige Lichtquelle war das Display ihres Handys, ein weißlicher und grüner Schein, der ihr half, nicht zu stolpern. Es war, als würde sie von einem Elfen geführt, einem von Leuchtpulver umhüllten hilfsbereiten Kobold, außerdem war der Himmel vom Mond erhellt, einem feurigen Mond, der eine Enthüllung ankündigt.
    Lauf Arianna, kümmere dich nicht um die Kratzer an den Fußgelenken und um die Nachttierchen, die dich in die Arme beißen, lass dich nicht von den winzigen fluoreszierenden Partikeln der Glühwürmchen verzaubern, lauf, bevor es zu spät ist, bevor Pati eine Dummheit begangen hat.
    Arianna begegnete Pati dort oben nicht.
    Es gab nur das Geräusch des schwarzen Meeres und die dunklen Umrisse eines Horizonts, der sich an den Bergen Albaniens brach.
    Da kam Arianna plötzlich der Verdacht, dass Mimi sich alles ausgedacht hatte, ein Verdacht, der zum Sturm wurde, als er in ihr aufstieg, ihr die Sicht trübte und sie in ein nervöses Lachen ausbrechen ließ. Ja. Das sieht Mimi ähnlich, sie hat schon immer mit sich selbst gesprochen, gut möglich, dass sie hier oben einen ihrer Vorfahren oder einen von ihren Heiligen getroffen hat.
    Arianna nahm die Schnellstraße, der Weg über den Asphalt war länger, aber so würde sie sich beim Abstieg kein Bein brechen, ein gespenstischer Anblick, so ging sie bergab, die Straße war unbeleuchtet, und die Autos, die ihr entgegenkamen, klirrten mit den Fernlichtern, noch war die Bar, wo man auf sie wartete, weit entfernt, sie war erschöpft, verstört, auch spürte sie eine unklare Traurigkeit, die sie abzuschütteln versuchte, indem sie sich auf die Dunkelheit konzentrierte. Dann das Neonlicht eines Kleinlasters, der an der Ausweichstelle eines breiten Straßenabschnitts Brötchen verkaufte. Es gab Plastikstühle, das Brummen des Stromgenerators mischte sich mit den heiseren Klängen von
Radio Venere
, dem italienischen Song einer progressiven Rockgruppe aus den siebziger Jahren, ein Mann griff nach einem Bier, das die Frau hinter der Theke ihm gerade entkorkt hatte. Arianna betrachtete ihn genauer, er war von einer krankhaften Magerkeit, die sie diagnostizieren konnte, bei ihren Praktika in Krankenhäusern hatte sie Dutzende solcher Fälle gesehen.
    Es war ein Mann, dem es nicht gut ging, die vom Neonlicht hervorgehobene Farbe seiner Haut erinnerte an ausgeblichene, trockene Tonerde, der Rücken zeigte den Beginn einer Verkrümmung, doch an seiner Haltung erkannte Arianna, dass es ein jüngeres Leiden war, der Mann hatte erst vor kurzem begonnen, sich zu verkrümmen. Einzelne Haarbüschel waren von jenem strohigen Weiß, an dem man Menschen erkennt, die einen Schock erlitten haben, der Mann merkte, dass er beobachtet wurde. Arianna erkannte in ihm den Mann vom Baum des Emigranten, aber er war nicht derselbe. Er war sehr verändert, als wären Jahrzehnte vergangen. Die Hände, wie waren die Hände? Waren es noch die Hände, die der Anmut des Gesichts widersprachen? Von wegen Anmut, das Gesicht bestand nur noch aus vorspringenden Kanten, und die schwieligen Bauernhände waren schmal und knochig geworden, sie hatten jetzt sogar etwas Weibliches, sie glichen ihren, Ariannas Händen. Sie wollte etwas sagen, sie machte den Mund auf, aber ihre Spucke erstickte sie, Arianna war gelähmt.
    Keiner hatte den Mut zu sprechen, Arianna war stehengeblieben, in aufrechter Haltung, ihre Brust glühte, und der Rücken versteifte sich. Pati, der die ein paar Jahre zurückliegende Szene wieder durchlebte, doch diesmal mit seiner von einem Schrecken verfinsterten Tochter, wandte sich zur Seite, dort stand ein Auto mit offener Tür, hastig und unbeholfen
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