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Zelot

Zelot

Titel: Zelot
Autoren: Reza Aslan
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schon seit Langem verloren gegangen. Jetzt befindet sich nichts mehr im Heiligtum. Dieser riesige leere Raum ist die Verbindung zur Gegenwart Gottes. Hier sammelt sich der vom Himmel herabsteigende göttliche Geist, strömt in konzentrischen Kreisen durch die Kammern des Tempels, den Priester- und den Israelitenhof, durch den Frauenhof und den Heidenvorhof, über die von Portiken gesäumten Mauern des Tempels und hinab in die Stadt Jerusalem, über das judäische Land nach Samarien und Idumäa, Peräa und Galiläa, durch das grenzenlose und mächtige Römische Reich zum Rest der Welt, zu allen Völkern und Nationen, die allesamt – ob Juden oder Heiden – genährt und erhalten werden durch den Geist des Herrn der Schöpfung, einen Geist, der nur eine einzige Quelle hat: das innere Heiligtum, das Allerheiligste, tief drinnen im Tempel, in der Heiligen Stadt Jerusalem.
    Der Zugang zum Allerheiligsten steht nur dem Hohepriester offen, der zu dieser Zeit, 56  n. Chr., ein junger Mann namens Jonatan, Sohn des Hannas, ist. Wie die meisten seiner Vorgänger in jüngerer Zeit hat Jonatan sein Amt direkt von Rom gekauft, und zwar sicher zu einem happigen Preis. Das Amt des Hohepriesters ist einträglich, beschränkt auf eine Handvoll adliger Familien, die die Position untereinander weitergeben wie ein Erbe (die rangniederen Priester stammen im Allgemeinen aus einfacheren Familien).
    Die Rolle des Tempels im jüdischen Leben kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Er dient den Juden als Kalender und Uhr; seine Rituale prägen den Jahreslauf ebenso wie die alltäglichen Tätigkeiten jedes einzelnen Bewohners von Jerusalem. Er ist das Handelszentrum von ganz Judäa, dessen wichtigste Finanzinstitution und größte Bank. Der Tempel ist nicht nur die Wohnstatt des Gottes Israels, sondern auch der Mittelpunkt der nationalistischen Sehnsüchte Israels; er beherbergt neben den heiligen Schriften und Gesetzesrollen, die den jüdischen Kult regeln, auch die wichtigsten Rechtsdokumente, historischen Aufzeichnungen und genealogischen Urkunden der jüdischen Nation.
    Anders als ihre heidnischen Nachbarn haben die Juden keine Vielzahl von im ganzen Land verteilten Tempeln. Es gibt nur ein Kultzentrum, nur eine einzige Quelle der göttlichen Präsenz, es gibt keinen anderen Ort, an dem ein Jude mit dem lebendigen Gott kommunizieren kann. Judäa ist im Grunde ein Tempelstaat. Der Begriff «Theokratie» wurde sogar geprägt, um Jerusalem damit zu beschreiben. «Die einen haben die höchste politische Regierungsgewalt an Monarchien übertragen», schrieb der jüdische Historiker Flavius Josephus im 1 . Jahrhundert, «andere an Oligarchien, wieder andere an die Massen [Demokratie]. Unser Gesetzgeber hingegen fühlte sich von keiner dieser Verfassungsformen angesprochen, sondern gab seinem Staatsgebilde die Form – wenn man einen etwas gewaltsam formulierten Begriff gebrauchen darf – einer ‹Theokratie›
[theokratia]
, indem er alle Herrschaft und Macht in die Hände Gottes legte.»
    Sie können sich den Tempel als eine Art Feudalstaat denken, der tausende Priester, Sänger, Pförtner und Diener beschäftigt und fruchtbare Ländereien bewirtschaftet, die von Tempelsklaven im Auftrag des Hohepriester und zu seinem Nutzen bestellt werden. Dazu kommen die Einnahmen aus der Tempelsteuer und der ständige Strom der Geschenke und Gaben von Besuchern und Pilgern – ganz zu schweigen von den gewaltigen Summen, die durch die Hände der Händler und Geldwechsler gehen und von denen der Tempel einen Teil erhält. Wenn Sie das alles zusammennehmen, verstehen Sie sicher, warum so viele Juden den gesamten Priesteradel und den Hohepriester im Besonderen einfach als eine Bande habgieriger «Freunde des Luxus» sahen, um Josephus zu zitieren.
    Stellen Sie sich den Hohepriester Jonatan am Altar vor; Räucherwerk glimmt in seiner Hand, und man kann leicht sehen, warum er solche Feindseligkeit erregt: Schon seine Priestergewänder, die er von seinen ebenso wohlhabenden Vorgängern geerbt hat, bezeugen den immensen Reichtum. Die lange, ärmellose Robe, purpurn (in der Farbe der Könige) gefärbt, mit zarten Troddeln und zierlichen Goldglöckchen am Saum; der mächtige Brustharnisch, besetzt mit zwölf kostbaren Edelsteinen, einen für jeden Stamm Israels; der makellose Turban, der auf seinem Kopf sitzt wie eine Tiara, mit einer Goldplatte vor der Stirn, auf der der unaussprechliche Name Gottes eingraviert ist;
urim
und
thummim
, so etwas wie
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