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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Autoren: Jack Finney
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Schiffsmützen, einige wenige sogar Melonen. Fast alle lächelten, waren erfreut und aufgeregt angesichts der Unterbrechung ihrer Reise. Während ich auf mit Teppichen ausgelegten Stufen durch dieses mächtige Schiff nach oben stieg, wurde mir der besondere Geruch der Titanic bewusst, der sich von dem der Mauretania unterschied; dieser einzigartige Geruch – ich erkannte nun, was es war – des Neuen. Die Farbe war erst vor Kurzem aufgetragen, die Teppiche weich und noch nicht abgelaufen, das Holz frisch verleimt – alles war neu an diesem herrlichen luxuriösen, noch jungfräulichen Linienschiff: Wir waren die Ersten.
    Für die zufriedenen und aufgeregten Passagiere, die mit mir durch das Schiff schlenderten, verhieß dies alles ein reines Vergnügen. Ich sah es an ihren Gesichtern, hörte es ihren Stimmen an, und es berührte mich seltsam. Für einige kurze Momente hatte ich Teil an den Erwartungen der Reise, die nun beginnen sollte. Dann trat ich in den Salon der ersten Klasse und sah den glänzenden Flügel, auf dem möglicherweise noch niemals jemand gespielt hatte. Ich erinnerte mich an die Geschichte eines irischen Mädchens, einer Immigrantin, die in einem der Rettungsboote gerettet wurde – hatte ich sie auf der Fähre gesehen? Während das Schiff langsam unterging, stieg sie mit anderen Zwischendeckpassagieren vom Zwischendeck bis hier nach oben in diesen herrlichen Salon. Sie ging weiter hinauf zum Bootsdeck, und als sie sich umblickte, sah sie einen der Immigranten voller Ehrfurcht vor dem Flügel verweilen. Er berührte die Tasten, begann dann zu spielen und ließ sich auf dem Hocker nieder. Seine Gefährten versammelten sich um ihn und begannen zu singen, ihre Blicke staunend auf den unvorstellbaren Luxus gerichtet, den sie hier vorfanden. Das war das Letzte, was das Mädchen von ihnen gesehen und gehört hatte.
    Die Erinnerung an diese Geschichte – mochte sie nun wahr sein oder nicht – trennte mich plötzlich von den anderen Passagieren: diesen herrlichen Frauen und Zigarren rauchenden Männern mit dem Kneifer auf der Nase. Wer von ihnen würde gerettet werden? Viele der Frauen, nur wenige der Männer. Schnell schob ich den Gedanken beiseite; ich befand mich auf diesem Schiff aus einem sehr wichtigen Grund und nur darauf wollte ich mich konzentrieren.
    Meine Kabine lag dort, wo sie laut Plan des White-Star-Deck liegen sollte, nahe der Treppe. Das ist sie (s. rechts), Kabine B 59 auf der Titanic, eingerichtet wie ein Hotelzimmer. Die Tür stand offen, der Schlüssel steckte, als ich in der Tür stand und das Foto machte. Hinter mir sagte ein Steward: »In Queenstown an Bord gegangen, nicht wahr, Sir?« Ich verstand, dass er das Ticket sehen wollte, und wandte mich um zu ihm: er trug ein grünes Jackett mit Messingknöpfen, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Wirst du gerettet werden, ging es mir durch den Kopf, als ich ihm das Ticket reichte. Er gab es mir zurück und nickte. Ich war der einzige Erste-Klasse-Passagier, der in Queenstown zugestiegen war, mein Gepäck würde also bald hier sein. Ich ging hinaus, um mich danach zu erkundigen.
    Noch eine Treppe hoch zum Bootsdeck, aber bevor ich sie erreicht hatte, blieb ich stehen. Neben jeder Treppe befand sich zu beiden Seiten jeweils eine Lampe hinter Glas, die jetzt jedoch noch nicht entzündet war. War das nicht die Treppe, fragte ich mich, und waren das nicht die Lichter, die der Zweite Offizier Lightoller sah, als er Frauen und Kinder in die Backbord-Rettungsboote lud? Als er von Zeit zu Zeit nach unten blickte und das grüne Ozeanwasser langsam hochsteigen sah, und in dem Wasser das gespenstische Leuchten dieser Lichter? Ich nahm es fast an; vermutete – aufgrund dessen, was ich darüber gelesen hatte –, dass dies Lightollers Treppe war, die nun auf die Nacht wartete, in der das Meer langsam, Stufe um Stufe, höher steigen würde.

    Ich schloss bei dem Gedanken daran gequält die Augen. Kurz darauf trat ich auf den hochpolierten Teakholzboden des Bootsdecks hinaus, dem höchsten Deck unter dem blassen Himmel und der schwachen Sonne. Durch das Leder meiner Sohlen spürte ich plötzlich das Vibrieren der großen, viele Decks unter mir liegenden Schiffsturbinen; wir fuhren auf die offene See hinaus. Hier hingen die Rettungsboote, das hier war das Deck, das bald mit Männern, Frauen und Kindern in Rettungswesten gefüllt sein würde. Einige von ihnen würden Ruhe bewahren, andere weinen oder schreckliche Angst haben, einige
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