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Zeitbombe Internet

Zeitbombe Internet

Titel: Zeitbombe Internet
Autoren: Thomas Fischermann
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vorgesehen, im Gegenteil: Es sollten ja möglichst viele unterschiedliche Geräte eingebunden werden können. Dem Ur-Internet war es auch völlig egal, was die Computer im Netz so trieben. Ob ein Aufruf zum Sturz Nixons oder ein Waffenkommando aus dem Pentagon, ob Download eines Bombenbauplans oder neueste Informationen zum bei Hackern äußerst beliebten Fantasy-Rollenspiel »Dungeons and Dragons« – Datenpaket war Datenpaket. Pakete wurden verschickt.
    Die Erbauer dieser egalitären Datenwelt behielten die Kontrolle – und das Pentagon hielt sich weitgehend heraus –, als neue Anforderungen an das Netz entstanden, als neue Funktionen erfunden wurden, die wiederum neue Standards und Vereinbarungen für das gemeinsame Internet notwendig machten. E-Mail zum Beispiel. Das World Wide Web mit seinen Seiten voller kunterbunter Texte und Bilder und seinen Querverweisen auf andere spannende Inhalte. Das alles wurde mehr oder weniger im Einvernehmen von selbsternannten Zirkeln aus Akademikern und Ingenieuren vereinbart.
    So war es noch bis in die neunziger Jahre hinein: ohne erkennbare Aufsicht durch die militärischen Auftraggeber oder durch die Wirtschaft, die Anlauf nahm auf den ersten großen Internetboom der späten neunziger Jahre. »Niemand bestreitet, dass (die Entwicklung des Internet) völlig ad hoc verlaufen ist«, schreiben Katie Hafner und Matthew Lyon in ihrer penibel recherchierten Internethistorie Where Wizards Stay Up at Night . »Die ersten Entwürfe für die Protokolle waren auf
einer Toilette verfasst worden, verdammt noch mal! Niemand (beim Verteidigungsministerium) hatte wirklich den Auftrag dafür erteilt, und einige der ersten Entwürfe waren ernstlich als eine Art Witz gemeint.«
    Begeistert veröffentlichte das Magazin Wired 1995 einen Artikel über dieses Phänomen, über die »Masters of the Metaverse«, die genialen Ingenieure, die eine neue Welt erschufen und augenscheinlich nicht einmal darüber in Streit gerieten. »Wie Anarchie funktioniert«, titelte die Zeitschrift damals. Gründer wie David D. Clark waren irgendwann auch auf den Geschmack für große Sprüche gekommen. »Wir lehnen Könige und Präsidenten ab«, sagte er, »und Abstimmungen auch. Wir glauben an den groben Konsens und an funktionsfähige Programme.«
    Bis es doch, ein einziges Mal und sehr nachhaltig, zum großen Showdown zwischen dieser bunten Ingenieurskommune und der Staatsgewalt kam. Das war 1997/98, und die Sache hatte damit zu tun, dass das angeblich so anarchische und egalitäre Internet sehr wohl eine hierarchische Struktur besaß. Es gab eine Art Telefonbuch des Internet. Jeder Computer im Netz bekommt eine Nummer zugewiesen, die ungefähr so aussieht: 74.208.59.170. Und viele dieser Nummern bekommen, weil es praktischer ist, außerdem noch ein paar aussagekräftige Worte in Menschensprache zugewiesen: etwa www.hampsterdance.com oder www.zeit.de . Verwaltet wird dieses gigantische Telefonbuch durch ein streng hierarchisches, weltweites System von Registraren, die wiederum von einer Zentrale in Amerika beaufsichtigt werden, und der Herrscher dieser Zentrale war eine halbe Ewigkeit lang ein einziger Internetgründervater: Jon Postel. »Wenn das Netz einen Gott hat«, schrieb das britische Magazin Economist 1997, »dann heißt er wahrscheinlich Jon Postel.« Er lebe wie ein zeitgenössischer Obi-Wan-Kenobi, so beschrieb ihn die Los Angeles Times : ein akademischer Einsiedler, der am Naturwuchs seines grauen Bartes nichts ändern mochte, der in wuchtigen Sandalen den südkalifornischen Strand erwanderte und Reportern auf Fragen nach seinem persönlichen Leben
antwortete: »Wenn wir es Ihren Lesern erzählen, werden sie das Interesse schnell verlieren.« Vint Cerf nannte ihn liebevoll »unseren Hippie-Patriarchen vom Dienst«.
    Postel und seine Ingenieurskollegen machten die Sache mit der Telefonbuchverwaltung zwar unbestritten gut – aber ohne ganz klaren Auftrag oder echte Rechtsgrundlage. Es hatte sich so ergeben. Doch in den neunziger Jahren waren manche Internetadressen wie www.coca-cola.com oder www.bmw.com Hunderttausende wert. Das Verteidigungsministerium, das jahrelang viel gezahlt und sich wenig eingemischt hatte, vergab wesentliche Teile der Telefonbuchverwaltung an eine kommerzielle Firma. Damit begann ein Riesenkrach, in dessen Verlauf die Gründerväter unter
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