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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug
Autoren: James Kahn
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Wind verfing sich im Segel von Lons aufrechtem Flügel, blähte ihn auf und trug sie mit trauernder Gemächlichkeit den Fluss hinauf.
    Josh erreichte den Rand des Regenwaldes, als die Sonne aufging, und steuerte den stolzen toten Leib zum Ufer. Dort löste er die Drähte, faltete die Flügel zusammen, beschwerte die Leiche mit Steinen und ließ sie in den Strom hinaustreiben. Sie schwamm hinaus, drehte sich und versank langsam in der Strömung. Josh starrte hinüber, bis er sie nicht mehr sehen konnte, dann ging er in den Dschungel hinein.
    Im nächsten Augenblick begrüßte ihn Jasmine, die abseits gelegen und auf ihn gewartet hatte. Sie umarmten sich. Josh standen die Tränen in den Augen. Jasmine führte ihn eine Meile in den Urwald hinein zu einer versteckten Stelle, wo die anderen unruhig schliefen oder sorgenvoll warteten. Beauty, Rose, Ollie, Summina und die Haremswaisen drängten sich um sie, aber für Wiedersehensfeiern blieb keine Zeit.
    Jasmine führte sie alle im Geschwindmarsch einen halben Tag durch den Dschungel zu einem Ort, den sie kannte – eine große, verborgene Höhle, von der kein Feind wusste. Sie war groß und behaglich, ausgestattet mit einem Lager von Dosen- und Trockennahrung, das schon viele Jahrzehnte alt war und für einen langen Aufenthalt reichte. Jasmine, Josh und Beauty brachten die Waisen neben einer unterirdischen Quelle zu Bett. Josh freute sich, Ollie endlich ruhig schlafen zu sehen, aber die tiefe Melancholie wollte nicht weichen. So viele Seelen dahin, liebe, echte Freunde. Der Preis für die friedlichen Träume eines jungen Mannes? fragte sich Josh. Der Sinn war dunkel, der Preis so qualvoll hoch, dass er nicht daran zu denken wagte.
    Er griff nach Summina und legte die Schlafende zu Ollie, dem sie friedlich ins Ohr summte. Die beiden kleinen Wesen lächelten.
    Und endlich, endlich in der Dschungelhöhle geborgen, schliefen die Abenteurer tief und fest und sparten sich ihre Geschichten von Sieg und Untergang für einen anderen Tag auf.
     
     

 
Epilog
     
    S ie schliefen die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag und noch einmal fast eine ganze Nacht. Am zweiten Morgen versammelten sich alle zu einem gemeinschaftlichen Frühstück aus Dschungelfrüchten, getrocknetem Echsenfleisch und Quellwasser aus der Höhle.
    »Auf jene, die wir gefunden, und auf jene, die wir verloren haben«, sagte Joshua.
    Alle hoben ihre Becher.
    »Und auf die Liebe unserer Retter«, sagte Rose.
    Ein Jubelschrei erhob sich. Das Festmahl begann. Speisen und Geschichten wurden gierig verschlungen.
    Man beklagte Roses grauenhafte Erlebnisse. Man umarmte und drückte Ollie, bis er fast zu sprechen begann, aber doch nicht ganz.
    Jeder hatte etwas beizusteuern zu der Anhäufung gestohlener Gehirne, mit der die ENGEL ein Kollektivbewußtsein zu schaffen versuchten, das sie Königin nannten. Rose sprach in das Durcheinander hinein.
    »So entmenschlicht das Ganze ist, aus dieser Episode habe ich etwas gewonnen. Sie nutzten das Wissen, das ich besaß, aber ich erhielt auch Wissen. Ich weiß Dinge, von denen ich nichts geahnt habe.«
    »Das kann man am Ende dieser Suche von uns allen sagen«, meinte Beauty.
    »Mag sein.« Rose nickte. »Vielleicht haben wir alle neues Wissen gefunden, ohne ganz zu verstehen, wie wir es erlangt haben. Trotzdem … Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt so vieles weiß. Und so vieles von dem, was ich weiß, bleibt mir noch ein Rätsel.« Sie konnte gar nicht aufzählen, woraus sich das alles zusammensetzte – von der neuen Erkenntnis über sich selbst zu den sonderbaren Offenbarungen, die sie dazu geführt hatten, Joshua einen Drahtkorb um den Kopf zu legen, damit die Wirkung des Wellengenerators auf ihn unterbunden wurde.
    Sie sprach es zwar nicht aus, hatte aber das beharrliche Gefühl, dass es doch ein neues Tier gab, eine überlegene, führende Intelligenz, obwohl Gabriel das verneint hatte. Sie wusste jedoch, dass sie nur ein Mensch war, dass die Menschen es in ihrer Geschichte stets für nötig gehalten hatten, derartig überlegene Figuren zu erfinden, ob es sie nun wirklich gab oder nicht. Sie lächelte Beauty zärtlich an. Er hatte auf seine schlichte Art wieder einmal recht gehabt. Sie alle hatten auf dieser Reise neue, tiefe Erkenntnisse gewonnen. Keiner konnte dem anderen ganz erklären, war für Einsichten das waren.
    Josh spürte eine große Leere im Herzen, wo Dicey gewesen war, vergrößert noch durch das Wissen um Lons Tod.
    »Mein Leid ist mein Geheimnis«,
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