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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit
Autoren: Rose Tremain
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verbeugte mich. Dann sagte er: »Ich habe Euch hergebeten, Merivel, weil ich Euren verstorbenen Vater sehr gern gehabt und bewundert habe.«
    »Ja, Majestät«, sagte ich. »Vielen Dank.«
    »Doch ich habe zunächst einmal eine Aufgabe für Euch, der Ihr Euch gewachsen zeigen müßt, weil es mir sonst sehr zu Herzen gehen würde.«
    »Wußten Eure Majestät«, wagte ich zu äußern, »daß das menschliche Herz – das heißt das Organ selbst – nichts fühlt?«
    Er sah mich besorgt an. »Ach, Merivel«, sagte er, »wo habt Ihr das denn gelernt?«
    »Ich habe es gesehen, Sir.«
    »Gesehen? Aber was wir sehen können, ist doch nur ein Bruchteil der Wirklichkeit. Ihr als Arzt müßtet das doch verstanden haben. Seht zum Beispiel meine Hand. Sie trägt einen Handschuh, den Euer verstorbener Vater gefertigt hat. Was wir sehen können, ist der erstklassige Handschuh, der an meinem Ringfinger ein wenig ausgebuchtet ist durch den großen Saphirring, den ich so gern trage. Doch unter dem Handschuh ist die Hand selbst, die tausenderlei Stellungen einnehmen kann, en l'air wie ein Tänzer, flehend wie ein Bettler, zur Faust geballt wie ein Raufbold, gefaltet zum Gebet wie ein Bischof … und dann wiederum, von welch phantastischer Vielfalt ist die Anordnung der Knochen in der Hand …«
    Er beschrieb dann einigermaßen akkurat den Skelettaufbau der menschlichen Hand. Als er schließlich damit fertig war, hielt ich es für ratsam, nicht wieder auf das Herz zurückzukommen, damit er endlich auf das zu sprechen kommen konnte, weswegen er mich in den Palast gerufen hatte.
    »Einer meiner Hunde scheint im Sterben zu liegen«, sagte er. »Der Tierchirurg hat ihn wiederholt zur Ader gelassen, das Haar an seinem Rücken für das Schröpfen abrasiert, es mit Einstichen, Brech- und Abführmitteln versucht, doch das kleine Tier macht keine Fortschritte. Wenn Ihr ihn heilen könnt, Merivel, biete ich Euch eine Stelle als Hofarzt an.«
    Ich fiel auf die Knie. Bestürzt merkte ich, daß auf dem einen Bein meiner Kniehose ein Fleck von meinem Frühstücksei war. »Danke, Sir«, stammelte ich.
    »Ich lasse Euch jetzt sofort zu dem Hund führen, Merivel. Man wird Euch Essen und Trinken und Wäsche für die Nacht bringen, ebenso alle chirurgischen Instrumente, die Ihr braucht. Ihr bleibt so lange, bis der Hund entweder tot oder gesund ist. Laßt Euch die Arzneimittel holen, die Ihr für geeignet haltet.«
    »Ja, Sir.«
    »Der Hund heißt Bibillou. Er hört auch auf Bibi und Lou-Lou.«
    »Lou-Lou, Majestät?«
    »Ja. Was übrigens Euren Namen angeht: Er hat einen sehr angenehmen Klang.«
    »Ich danke Euch, Sir.«
    »Merivel. Klingt sehr hübsch in meinen Ohren.«
    Ich verließ das Gemach des Königs und folgte zwei Dienern meilenweit durch Korridore. Ich wurde in ein freundliches Schlafgemach mit Blick auf den Fluß und den überfüllten Kai geführt. Ein Feuer brannte im Kamin, und davor, in einem Körbchen, lag ein braun-weißer Spaniel. Sein Körper war mitleiderregend dünn, und sein Atem rasselte. Auf einem Tisch neben dem Fenster stand eine Karaffe Bordeaux, ein Kelchglas und eine Schale mit portugiesischen Feigen. Über dem Bett ausgebreitet lag ein feines Leinennachthemd und eine dazu passende Nachtmütze, die ich, sobald mich die Diener mit dem Hund allein gelassen hatten, sofort aufsetzte, da ich den ganzen Tag über schon an einem lästigen Jucken unter meiner Perücke gelitten hatte. Ich zog auch meine Schuhe und meinen Rock aus und goß mir ein Glas Rotwein ein.
    Ich war schrecklich müde. Ich hatte seit dem Brand schlecht geschlafen, doch wohl mehr aus seelischer als aus körperlicher Erschöpfung. So war ich froh, jetzt allein zu sein. Ich holte mir den Rotwein ans Bett, legte mich zurück und schlürfte ihn gierig wie ein römischer Senator. Ein- oder zweimal sah ich zu dem Hund hinüber. Er zuckte und winselte im Traum. »Lou-Lou«, rief ich leise, doch er rührte sich nicht. Ich werde jetzt gleich aufstehen, sagte ich mir, und den Hund untersuchen, um zu sehen, was zu tun ist. Statt dessen fuhr ich fort, Bordeaux zu trinken, der zu den besten gehörte, die ich je getrunken hatte, und bald spürte ich, wie mein Denken samtweich von einem köstlichen Wohlbehagen eingehüllt wurde. Da ich mich plötzlich hungrig fühlte, zwang ich mich, aufzustehen und ein paar Feigen zu essen, doch mein Körper schien so schwer und wackelig zu sein wie ein Faß Aale auf hoher See, und ich schwankte ins Bett zurück, wo ich betäubt vom Wein
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