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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit
Autoren: Rose Tremain
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fehlten uns die Worte.
    Von diesem Tag an konnte ich meinem eigenen Herzen nicht mehr die allgemein übliche Reverenz erweisen.
     
    3. Mein Vater wurde im Jahre 1661 zum Handschuhmacher des wiedereingesetzten Königs ernannt.
    Zu dieser Zeit war ich am Königlichen College für Medizin, nachdem ich die vier Jahre davor in Padua bei dem großen Anatomen Fabricius studiert hatte. Ich arbeitete an einem Referat über das Thema »Die einzelnen Krankheitsschritte: eine Abhandlung über die Bedeutung der Entstehungsorte von Tumoren und anderen Malignitäten bei der Erkennung und Behandlung von Krankheiten«. Doch ich wurde langsam faul. Mehrmals in der Woche schlief ich in meinem möblierten Zimmer bis spät in den Morgen hinein, anstatt mich, wozu ich eigentlich verpflichtet war, um die armen Kranken im St.-Thomas-Hospital zu kümmern. Und anstatt meine Vorlesungen zu besuchen, verbrachte ich einige Nachmittage in der Woche damit, im Hyde Park herumzuspazieren, mit keinem anderen Ziel als dem, irgendeine plumpe Hure aufzutun und mit ihr das zu machen, was ich den Akt des Vergessens nannte.
    Die Wahrheit ist, daß bei der Rückkehr des Königs Selbstdisziplin und stumpfsinnige Plackerei gleichsam in einem Heiterkeitsausbruch verpufft waren. Das Leben erfüllte mich nun mit so viel Erregung und Gier, daß ich nicht allzuviel davon bei der Arbeit verbringen wollte. Frauen waren billiger als Bordeaux, also berauschte ich mich an ihnen. Zeitweilig war mein Durst nach ihnen unstillbar. Ich fiel wild über sie
her. Ohne jede Bescheidenheit sehnte ich mich danach, zwei auf einmal zu nehmen, maßlos wie die Wildschweine, deren Borsten meine eigenen verbliebenen Haare so ähneln. Sogar an öffentlichen Orten: nachts in dunklen, engen Gassen, in einer Pferdedroschke, auf einem Flußkahn, im Orchestergraben des Herzoglichen Schauspielhauses. Ich träumte von ihnen. Bis zu dem Tag, an dem ich zum ersten Mal nach Whitehall ging. Und nach diesem Tag – so außergewöhnlich und unvergeßlich war der Eindruck, den er auf mich machte – fing ich an, vom König zu träumen.
    Ich verstehe jetzt, daß die Bewunderung für Handwerk und Gewerbe im großzügigen, aber halsstarrigen Wesen König Charles' II . tief verwurzelt ist. Er nahm meinen Vater in seinen Dienst, weil er in ihm einen tüchtigen und geradlinigen Handwerker sah, der mit Leib und Seele bei der Sache war. Solche Leute machten ihm Freude, weil sie einer geordneten, genau definierten Welt angehören und niemals anstreben, in eine andere überzuwechseln. Ein Galanteriewarenhersteller wie mein Vater würde niemals auf die Idee kommen, beispielsweise ein Gärtner, Büchsenmacher oder Geldverleiher zu werden. Mit seinem Handwerk deckte er einen ganz bestimmten Bereich ab, den er nicht verließ. König Charles erläuterte meinem Vater, während er ein Paar seiner vorzüglich geschnittenen Glacé-Handschuhe anprobierte, daß er hoffte, das englische Volk würde sich während seiner Regentschaft genauso verhalten, »jeder auf seinem angestammten Platz, in dem ihm bestimmten Beruf, Geschäft oder Handwerk. Und jeder damit zufrieden, so daß es kein Gedrängel und Geschubse gibt und niemand über sich hinauswill. So werden wir Frieden haben, und ich kann das Land regieren.«
    Ich weiß zwar nicht, was mein Vater darauf antwortete, wohl aber, daß es bei dieser Gelegenheit war, daß der König versprach, »demnächst einmal, wenn Ihr mir Handschuhe bringt«, meinem Vater seine Sammlung großer und kleiner Uhren in seinem privaten Arbeitszimmer zu zeigen.
    Höchstwahrscheinlich hat sich mein Vater ehrerbietig verneigt. Es ist nur sehr wenigen Leuten vergönnt, das Arbeitszimmer des Königs zu betreten. Der einzige Schlüssel wird von seinem Leibdiener Chiffinch aufbewahrt. Und das war der Augenblick, in dem mein Vater – vielleicht auf den Knien? – ein Wort für mich einlegte und den König fragte, ob er ihm einmal seinen einzigen Sohn vom Königlichen College für Medizin vorstellen dürfe, »falls Eure Majestät in Eurem Haushalt je einen zusätzlichen Arzt brauchen solltet … vielleicht einen Arzt für das Kammerpersonal oder auch nur für die Küchenjungen …«
    »Aber selbstverständlich«, scheint der König geantwortet zu haben, »und wir zeigen ihm auch die Uhren. Ich nehme an, daß ihn als Anatomen ihre mechanische Komplexität interessieren wird.«
    So kam mein Vater an einem Novembernachmittag, von einem frischen Wind den Ludgate Hill hinaufgetrieben, an meinem
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