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Zeit der Idioten

Zeit der Idioten

Titel: Zeit der Idioten
Autoren: Bernhard Moshammer
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lachen, aber er wird euch anhalten, euer Ohr gegen das seine zu halten. Er wird todernst werden. Und wenn ihr ihm sagt, ihr hört nichts und er müsse vielleicht intensiver an seine Töchter denken, wird er fuchsteufelswild werden und euch anfahren:
    »Wenn ich an meine Mädchen denke, zerreißt es mir das Herz, also erzähl du mir nicht, ich soll intensiver an sie denken!«
    Wahrscheinlich werdet ihr dann noch einmal genau hinhören und, glaubt mir, da ist ein entferntes Lachen. Ein Kinderlachen. Ihr werdet es hören. Es wird euch nicht unbedingt gefallen, denn es ist ganz schön unheimlich. Ihr werdet dann endlich aufs Klo gehen wollen, aber der Hermann wird sagen:
    »Willst du jetzt meine Geschichte hören oder nicht?«
    Ihr werdet Ja sagen. Alle sagen Ja.
    »Also, die Fünfziger. Vierundfünfzig. Zwei Wochen lang hat es durchgeregnet. Wir sitzen gerade beim Essen, beim Abendessen, da sagt meine Tochter, ich glaube, es war die Anna: Was ist das für ein Rauschen? Was für ein Rauschen, sage ich, da ist kein Rauschen. Doch, sagt die andere, ich kann’s auch hören. Und wirklich, da war ein Rauschen, wie ein Sturm, aber es war windstill. Und es ist immer lauter geworden. Ich gehe auf die Terrasse hinaus und sage: Es kommt von dort, aus dem Feld. Es ist unbeschreiblich laut geworden, wir sind alle auf der Terrasse gestanden, haben uns aneinandergeklammert, die Mädchen haben sich die Ohren zugehalten, und dann war sie da, die Welle. Das war einfach Wasser, verstehst du? Du kannst dir das nicht vorstellen, eine unglaubliche Welle hat mit diesem ohrenbetäubenden Getöse das ganze Kukuruzfeld niedergerissen und ist Sekunden später gegen unser Haus geprallt, eingedrungen und am anderen Ende wieder hinausgeschossen. Wir sind ins oberste Stockwerk, haben einfach nur zugesehen. Und ich war mir sicher: Das war’s jetzt. Das ist der Weltuntergang. Und jetzt kommt das Interessante …«
    Er wird euch nicht fragen, ob ihr euch dafür interessiert, aber ihr werdet ihm zuhören. Alle hören zu.
    »Genau in dem Moment, in dem ich
Weltuntergang
denke, lasse ich meine Frau los. Meine wunderschöne Frau, die ich über alles geliebt, der ich Treue und Liebe bis an mein Lebensende geschworen habe, habe ich losgelassen. Und mit ihr habe ich meine Liebe zu ihr und zu einfach allem losgelassen. Zähe drei Tage lang hat das Wasser das ganze Land begraben, nur die Dächer der Häuser waren zu sehen, aber das ist unwichtig. Natürlich haben wir bis auf die Schulden und den Dreck alles verloren, aber wichtig ist nur, dass ich meine Frau losgelassen habe. Von diesem Moment an war sie mir egal, habe ich sie als Klotz am Bein empfunden. Ihre riesigen Brüste haben mich angewidert, und was sie gesagt hat, war immer das Falsche. Ich habe mich nie mehr um meine Kinder gekümmert. Und ich habe zu saufen begonnen. Seit diesem Tag versuche ich mir den Tod anzusaufen, aber ich schaffe es nicht. Ich schaffe es einfach nicht.«
    Dann wird er mit nassen Augen an seinem Bier nippen und euch nicht mehr ansehen, so als ob ihr gar nicht hier wärt. Ihr werdet endlich aufs Klo gehen, aber glaubt mir, ihr werdet nicht mehr dieselben sein.
    Natürlich ist er ein alter Idiot, aber er geht mir immer noch sehr nahe. Manchmal denke ich mir, ich könnte auch so enden. Ich könnte mich einfach für immer ans andere Ende der Bar setzen und den Leuten meine Geschichte aufschwatzen. Jessasmarandjosef, nein! Außerdem muss ich, wenn ich den Hermann sehe, immer an meinen Vater denken, keine Ahnung warum, aber das versuche ich im Normalfall zu vermeiden.
    Jedenfalls ist der alte Hermann ein Böllinger Original, einer von denen, die im Magen dieser Riesensau Bölling sitzen. Aber irgendwann, früher oder später, wird jeder verdaut und ausgeschieden, und dieser langsame Kreislauf hält Bölling am Leben.
    Dieses Monster hat Zeit!
    Ein Menschenleben ist ein aussichtsloser Kampf gegen die Zeit, aber diese Riesensau grunzt vor sich hin und frisst und scheißt einfach auf die Zeit. Denn ihr geht es nicht um Bedürfnisbefriedigung – nein, wer die Ewigkeit am Buckel hat, handelt völlig sinnlos und wertfrei, versteht ihr? In größeren Städten, also in richtigen Städten mit mehreren tausend Einwohnern, gibt es spätestens alle zehn Jahre einen Generationswechsel, dann werden die Alten von den Jungen aus den Lokalen geworfen und landen vor ihren Fernsehern oder auf dem Golfplatz, aber in Bölling mit seinen zwölfhundert Menschen findet diese natürliche Auslese nicht
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