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Zeit deines Lebens

Titel: Zeit deines Lebens
Autoren: Cecelia Ahern
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bloß einen Schreck einjagen. Ich wusste, dass sie alle da drin sind und glückliche Familie spielen.«
    »Na ja, das tun sie jetzt jedenfalls bestimmt nicht mehr.«
    Der Junge sagte nichts, schien sich aber nicht mehr so darüber zu freuen wie vorhin, als Raphie hereingekommen war.
    »Ein Fünfzehn-Pfund-Truthahn ist ganz schön groß für drei Leute.«
    »Tja, mein Dad ist aber auch echt ein fetter Arsch.«
    Allmählich bekam Raphie das Gefühl, dass er doch seine Zeit verschwendete. Plötzlich hatte er die Nase voll von dem Knaben und stand auf, um zu gehen.
    »Sonst ist Dads Familie immer zu uns zum Essen gekommen«, rief der Junge ihm nach, um zu verhindern, dass Raphie ihn alleine ließ. »Aber die hatten dieses Jahr auch was anderes vor. Und für uns zwei war der Truthahn einfach {26 } zu verdammt groß«, wiederholte er kopfschüttelnd. Sobald er aufhörte, den Großkotz zu geben, veränderte sich sein Ton. »Wann ist meine Mum hier?«
    Raphie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, wenn du deine Lektion gelernt hast.«
    »Aber es ist Weihnachten.«
    »An Weihnachten kann man genauso gut eine Lektion lernen wie an jedem anderen Tag auch.«
    »Lektionen sind was für Kinder.«
    Raphie lächelte.
    »Was denn?«, fauchte der Junge.
    »Ich hab heute auch eine gelernt.«
    »Oh, stimmt. Lektionen sind nicht nur für Kinder, sondern auch für Deppen. Hab ich ganz vergessen.«
    Raphie machte sich auf den Weg zur Tür.
    »Was für eine Lektion haben Sie denn gelernt?«, erkundigte sich der Junge hastig, und Raphie entnahm seinem Ton, dass ihm wirklich viel daran lag, nicht allein sein zu müssen.
    Also blieb er stehen und drehte sich um. Er sah traurig aus und fühlte sich auch so.
    »War anscheinend eine ziemlich beschissene Lektion, was?«, vermutete der Junge sofort.
    »Im Lauf deines Lebens wirst du merken, dass das für die meisten Lektionen gilt.«
    Zusammengesunken saß der Truthahnjunge am Tisch. Die Kapuzenjacke war ihm von der Schulter gerutscht, zwischen den schulterlangen fettigen Haaren lugten kleine rosa Ohren hervor, die Wangen waren voller Pickel, doch die Augen blickten klar und blau. Im Grunde war er noch ein Kind.
    Raphie seufzte. Bestimmt würde man ihn zwingen, vorzeitig {27 } in Rente zu gehen, wenn er jetzt diese Geschichte erzählte. Trotzdem zog er einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich.
    »Nur damit das klar ist«, sagte er, »
du
wolltest, dass ich dir das erzähle.«

Der Anfang der Geschichte
4 Der Schuhbeobachter
    Lou Suffern musste immer zwei Dinge zur gleichen Zeit tun. Oder an zwei Orten gleichzeitig sein. Wenn er schlief, träumte er. Zwischen den Träumen ging er die Ereignisse des vergangenen Tages noch einmal durch, machte aber auch schon Pläne für den nächsten, was dazu führte, dass er, wenn um sechs Uhr morgens sein Wecker klingelte, nicht sonderlich gut ausgeruht war. Trotzdem probte er unter der Dusche seine Präsentationen und beantwortete gelegentlich sogar – eine Hand durch den Duschvorhang gestreckt – auf seinem BlackBerry die neuesten E-Mails. Beim Frühstück las er die Zeitung, und wenn seine fünfjährige Tochter ihm auf ihre kindlich-weitschweifige Art eine Geschichte erzählte, hörte er nebenher die Morgennachrichten. Sein dreizehn Monate alter Sohn lernte jeden Tag etwas Neues, und Lou nahm es zwar mit interessiertem Gesicht zur Kenntnis, aber sein Gehirn war währenddessen fieberhaft damit beschäftigt zu analysieren, warum er genau das Gegenteil empfand und sich tierisch langweilte. Wenn er sich mit einem Kuss von seiner Frau verabschiedete, dachte er dabei an eine andere.
    Jede Handlung, jede Bewegung, jede Verabredung – alles, was er tat oder dachte, wurde von einer weiteren Tätigkeit oder einem anderen Gedanken überlagert. Die Fahrt {32 } zur Arbeit war mit Hilfe der Freisprechanlage gleichzeitig eine Telefonkonferenz. Aus einem Frühstück wurde Lunch, aus dem Lunch ein Aperitif. Der Aperitif ging seinerseits über in ein Abendessen, das Abendessen in einen Drink danach, der Drink in … nun ja, das hing davon ab, wie es für ihn lief. An Abenden, an denen ihm der Zufall gewogen war und er das in irgendeiner Wohnung oder einem Hotelzimmer auskostete, erzählte er denjenigen, die mit einem solchen Arrangement aus verständlichen Gründen weniger einverstanden gewesen wären – also vornehmlich seiner Frau –, dass er woanders war. In solchen Fällen befand er sich für sie dann in einer wichtigen Sitzung, saß auf dem
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