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Zeit deines Lebens

Titel: Zeit deines Lebens
Autoren: Cecelia Ahern
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weiß.«
    Eine Weile starrten die beiden einander stumm an. Sie wussten, dass heute Morgen etwas Seltsames mit ihnen geschehen war, etwas, das sie für immer verändert hatte.
    »Ich war verheiratet«, erklärte Jessica schließlich. »Autounfall. Ich war dabei. Hab seine Hand gehalten. Genau wie heute früh.« Sie schluckte und senkte die Stimme. »Ich hätte alles darum gegeben, wenn ich ihm wenigstens noch ein paar Stunden hätte schenken können.« Da, sie hatte es gesagt. »Ich habe Lou geholfen, eine Tablette zu schlucken, Raphie«, fuhr sie dann mit fester Stimme fort und blickte ihm in die Augen. »Ich weiß, das hätte ich wahrscheinlich nicht tun dürfen. Sicher, ich kann nicht beweisen, ob die Sache mit den Pillen stimmt oder nicht – wir können Gabe ja nicht finden –, aber wenn ich Lou zu ein paar Extrastunden mit seiner Familie verholfen habe, bin ich froh. Und ich würde es jederzeit wieder tun – falls jemand fragt.«
    Raphie nickte nur und nahm ihre zweite Beichte schweigend zur Kenntnis. Er würde alles in die Aussage einfügen, die sie zu Protokoll gegeben hatten, aber das musste er ihr nicht eigens erklären. Sie wusste es längst.
    So starrten sie einander an, ohne sich wirklich zu sehen. Ihre Gedanken waren anderswo, in der Vergangenheit, bei der Zeit, die verloren war und niemals wiederkommen würde.
    »Wo ist mein Sohn?« Eine aufgeregte Frauenstimme durchbrach das Schweigen. Als sie die Tür aufgemacht hatte, war ein Schwall Licht in die dunkle Polizeistation gedrungen. Dahinter kroch auch die Kälte des Tages herein {362 } – Schneeflocken hatten sich in den Haaren der Frau verfangen und lösten sich von ihren Stiefeln, als sie auf den Boden stampfte. »Er ist noch ein Kind«, erklärte sie und schluckte, und ihre Stimme bebte. »Ein vierzehnjähriger Junge. Ich hab ihn losgeschickt, um Soßenbinder zu holen. Und jetzt haben wir keinen Truthahn«, erklärte sie etwas zusammenhanglos.
    »Ich kümmere mich darum«, sagte Jessica zu Raphie und nickte ihm aufmunternd zu. »Geh du nach Hause.«
    Und das tat er auch.
     
    Manchmal wirkt sich etwas sehr Wichtiges nur auf einen kleinen Kreis von Leuten aus. Umgekehrt kann etwas scheinbar ganz Nebensächliches das Leben einer großen Masse beeinflussen. In beiden Fällen kann ein Ereignis – sei es nun groß oder klein – eine ganze Reihe von Menschen betreffen, einen nach dem anderen. Ereignisse können uns zusammenbringen. Denn wir sind alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ein Ereignis setzt etwas in uns in Bewegung, das uns mit einer Situation und mit anderen Menschen verbindet und uns zum Leuchten bringt wie eine Lichterkette am Weihnachtsbaum, verdreht und verwoben, aber alle verknüpft mit dem gleichen Draht. Manche gehen aus, andere flackern, andere leuchten hell und kräftig, aber alle hängen wir an der gleichen Strippe.
    Am Anfang habe ich gesagt, dass diese Geschichte von einem Menschen handelt, der herausfindet, wer er ist. Von einem Menschen, dessen Schutzschichten sich lösen und dessen Herz für all die sichtbar wird, die wichtig sind. Und davon, dass alle, die wichtig sind, sich dieser Person ebenfalls zeigen. Bestimmt haben Sie gedacht, ich rede von {363 } Lou Suffern, nicht wahr? Falsch. Ich meine damit uns, uns alle.
    Eine Lektion sucht den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen uns und verbindet uns alle miteinander, wie die Glieder einer Kette. Am Ende dieser Kette hängt eine Uhr, und auf dem Ziffernblatt dieser Uhr sieht man, wie die Zeit vergeht. Wir hören es, dieses leise Ticktack, das jede Stille durchbricht, und wir sehen es auch. Aber oft fühlen wir es nicht. Jede Sekunde hinterlässt ihre Spuren im Leben jedes einzelnen Menschen, sie kommt und geht wieder, in aller Stille, ohne großes Trara. Sie löst sich in Luft auf, wie der Dampf von einem heißen Christmas-Pudding. Wenn wir Zeit haben, hält sie uns warm, aber wenn unsere Zeit vorüber ist, werden auch wir kalt. Zeit ist kostbarer als Gold, kostbarer als Edelsteine, kostbarer als Öl und kostbarer als irgendein anderer wertvoller Gegenstand. Es ist die Zeit, an der es uns oft mangelt, es ist die Zeit, die den Krieg in unseren Herzen verursacht. Deshalb müssen wir klug mit ihr umgehen. Zeit kann nicht eingepackt und mit einer hübschen Schleife verziert unter den Tannenbaum gelegt werden.
    Zeit kann man nicht verschenken. Aber wir können sie miteinander teilen.

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    Mit all meiner Liebe für meine Familie – Mim, Dad, Georgina, Nicky,
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