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Zeichen im Schnee

Zeichen im Schnee

Titel: Zeichen im Schnee
Autoren: Melanie McGrath
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diese Leute erzählen, auf die Sie gestoßen sind. Die Altgläubigen – das sind keine normalen Menschen wie Sie und ich.»
    Sie musste sich kneifen, um nicht unverschämt zu werden. Normale Menschen? Was sollte das denn heißen?
    Truro schien ihren Gesichtsausdruck nicht zu bemerken und fuhr fort: «Sie kamen ursprünglich aus Russland. Hier nennt man sie immer noch Russen, obwohl sie schon nicht mehr dort leben, seit sie sich vor mehreren hundert Jahren von der russisch-orthodoxen Kirche abgespalten und ihre Wanderung über den Erdball begonnen haben. Sie sind seit vierzig Jahren hier in Alaska, und einige sprechen nicht mal Englisch. Sie sind ein verschlossenes Volk, sie bleiben unter sich, nennen Menschen wie uns ‹welthaft› und meiden uns nach Kräften», sagte er. «Wir wissen nicht viel über sie, aber was wir wissen, das gefällt uns nicht besonders.»
    Er nahm einen Stift und drehte ihn zwischen den Fingern.
    «Erinnern Sie sich an das Kreuz, das auf den Leichnam gezeichnet war?»
    Sie sah ihn entgeistert an. Wie konnte er annehmen, dass sie das vergessen würde?
    «Den Seidenstoff, der um den kleinen Jungen gewickelt war, den Sie gefunden haben? Den benutzen die Gläubigen bei ihren religiösen Zeremonien. Die Hütte ist ein Geisterhaus. Das ist eine Tradition der athabaskischen Ureinwohner.»
    Er schaltete die Kamera wieder ein, und Edie fragte sich, ob irgendetwas von dem, was er gesagt hatte, auf Mutmaßungen, gar Vorurteilen beruhte.
    «So, kommen wir darauf zurück, wann Sie die zwei Altgläubigen auf dem Motorschlitten gesehen haben.»
    Sie wollte ihm berichten, wie wenig Schnee rund um das Häuschen angeweht worden war, dass keinerlei Fußabdrücke oder Spuren zu ihm hingeführt hatten, und was das alles darüber aussagte, wann das Häuschen verlassen worden war. Sie wollte ihm erklären, dass die Eiskristalle gebrochen waren, als sie mit dem gefrorenen Leichnam in Berührung kamen, dass sie nicht verstand, was das hieß, sich aber sicher war, dass es von Bedeutung war, doch sie vertraute nicht mehr darauf, dass er ihr zuhören würde.

    Es war nach zehn Uhr abends, als sie nach der Befragung die Fourth Avenue hinunterging. Die Luft war klar, doch die Straßenlaternen bildeten über Edies Kopf ein Dach aus Licht und verdeckten ihr die Sicht auf die Sterne. Der Gegensatz zwischen der stickigen Hitze im APD -Gebäude und dem kalten Märzabend trieb ihr einen pochenden Schmerz in die Wangen. Sie kam an mehreren Souvenirgeschäften vorüber, die billiges einheimisches Kunsthandwerk verkauften, schäbige Schnitzereien aus imitierten Mammut-Stoßzähnen, Felle, unsäglich zusammengenäht zu Kopien der Pelztiere, von denen sie ursprünglich stammten. Schund aller Art. Ein Pärchen, das einen Schaufensterbummel machte, stand dicht an der Scheibe. Auf der Straße neben Edie rumpelten Lastwagen vorbei und hinterließen eine Woge aus Dieselabgasen.
    Sie ging zu dem billigen Einzimmerapartment, das sie für die Dauer des Iditarod-Rennens gemietet hatte, und wurde nicht zum ersten Mal, seit sie das grausige Paket im Wald geöffnet hatte, von dem gewaltigen Verlangen erfasst, sich bewusstlos zu saufen. Nicht, dass saufen für irgendetwas eine Lösung wäre, außer für den momentanen Schmerz, doch der momentane Schmerz hatte sie so mächtig im Griff, dass sie sich die Worte laut vorsagen musste, um sich zu zwingen, sie zu befolgen:
Ich werde nicht trinken
.
    Stattdessen ging sie zur Kochnische und setzte Teewasser auf. Durch die Wand hörte sie die abendlichen Geräusche ihrer Nachbarn: Fernsehgeplapper, das Gehuste und Geseufze von Männern und Frauen, die sich zum Schlafengehen bereit machten. Als sie vor zwei Tagen angekommen war, hatte sie mit der Absicht, sich vorzustellen, an die Türen auf ihrer Etage geklopft, doch kaum jemand hatte geöffnet, und den erstaunten und argwöhnischen Mienen derjenigen, die es doch taten, entnahm sie, dass man sie für verrückt hielt. Sie sagte ihnen nicht, was sie wirklich dachte, dass sie lebten wie Klippenvögel, eingekeilt in ihren winzig kleinen Festungen, allen Impulsen gegenüber argwöhnisch, die nicht ihren eigenen entsprachen.
    Sie trat an das einzige Fenster und ließ das Rollo herunter, um den Lichtschein einer Neonröhre auszublenden, der vom Gehsteig hereindrang. Dann ging sie mit einem Becher Tee in der Hand zum Telefon und wählte die Nummer, die Derek ihr von seinem Quartier in Nome gegeben hatte, dem Zielort des Iditarod-Rennens. Eine unbekannte Stimme
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