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Zebraland

Zebraland

Titel: Zebraland
Autoren: Marlene Roeder
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sich oben an der Dachkante entlangzieht. Dahinter ist der flache Quader eines Gebäudes zu erkennen. Der eine Teil ist offensichtlich bewohnt, ein paar vertrocknete Topfpflanzen zieren das Fensterbrett. Der andere Teil des Gebäudes hat ein Schiebetor, auf das ein riesengroßes Bild von Bob Marley und den Wailers gesprayt ist. Das muss die Werkstatt sein.
    Ziggy steigt aus und rennt durch den strömenden Regen darauf zu.
    »Was macht er da?«, frage ich, als ich sehe, wie sich Ziggy über eine der Topfpflanzen beugt.
    »Ich nehme an, er sucht den Schlüssel«, antwortet Phil. »Guck mal, ich glaube, er hat ihn gefunden!«
    Tatsächlich macht Ziggy sich jetzt am Werkstatttor zu schaffen. Mit einem Quietschen geht es auf. Ziggy winkt auffordernd.
    Phil wirft mir einen unschlüssigen Blick zu, dann tritt er sanft die Kupplung. Der Wagen rollt durch das geöffnete Tor in die dunkle Werkstatt.
    Neonröhren erwachen flackernd und tauchen den Raum in kaltes, weißes Licht. Die Werkstatt ist nicht besonders groß, der Mercedes füllt sie fast zur Hälfte aus. In einer Ecke lehnt ein Mofa, das aussieht, als wäre es der Schrottpresse nur knapp entkommen. Die Luft ist gesättigt vom Geruch nach Maschinenöl und Benzin.
    Ziggy verschwindet in der Wohnung seines Cousins, die von der Werkstatt durch eine Wand aus Glasbausteinen getrennt ist. Mit Schaudern bemerke ich, dass er noch immer die Handtasche des toten Mädchens an sich gepresst hält wie ein kleines, verletztes Tier.
    Anouk kauert auf dem Rücksitz, während Phil beruhigend auf sie einredet und ihren Arm streichelt.
    »Hey, Judith, holst du mal einen der Schlafsäcke aus dem Kofferraum?«, fragt er mit gedämpfter Stimme. »Wärme wird ihr guttun.«
    Ich werfe einen zweifelnden Blick auf Anouk, mache aber, was Phil gesagt hat. Er deckt Anouk so liebevoll mit dem Schlafsack zu, dass ich wegsehen muss.
    Ich starre das Mofa an und fühle mich fehl am Platz. Erstaunlich, dass solch banale Gefühle noch funktionieren, während alles sonst in Fetzen fliegt.
    »Kannst du bei ihr bleiben, Judith? Ich geh kurz mal schauen, wo Ziggy bleibt. Und ob ich hier irgendwo ein Radio finde.«
    Auf meinen verständnislosen Blick hin seufzt Phil: »Vielleicht bringen sie es ja in den Nachrichten. Wir müssen auf dem Laufenden bleiben.« Behutsam löst er sich von Anouk und küsst sie auf die Stirn: »Bin gleich wieder da, Schatz.«
    Als er geht, stößt Anouk einen dumpfen, verzweifelten Laut aus. Ihre Hand schießt vor, sucht nach seiner, findet aber nur meine. Ihre heißen Finger umklammern meine so fest, dass es fast wehtut. Seltsamerweise finde ich es irgendwie beruhigend. Man spürt, dass man noch am Leben ist.
    Während Anouk im Auto liegt, sitzen wir drei in der winzigen Küche von Ziggys Cousin.
    Phil hockt über das Radio gebeugt und wartet darauf, dass sie die Meldung bringen. Als ich es ausschalten will, weil ich es nicht mehr ertrage, brüllt er mich an.
    Regenfinger trommeln auf das Dach. Als der Morgen dämmert, fallen mir die Augen zu.
    Dunkelheit kommt herangekrochen, die Dunkelheit aus den schwarzen, schweigenden Wäldern. Ich reiße die brennenden Augen wieder auf, reibe sie mit den Fäusten.
    Einmal, als ich als Kind einen Albtraum hatte, bin ich zu meinen Eltern ins Bett geschlüpft. Zwischen ihren großen, warmen Körpern hatte ich das Gefühl, nichts Böses könne dahin vordringen. Mama sang mir ein Schlaflied vor. Und ich schlief ein, ganz sicher. Mit der Gewissheit, dass am nächsten Morgen alles wieder gut sein würde.
    Als Kind kann man noch daran glauben. Man glaubt auch, dass die Eltern immer für einen da sein, einen immer lieben werden.
    Später, als ich Phil kennengelernt habe, war ich froh, wenn ich bei ihm übernachten konnte. Manchmal bin ich mitten in der Nacht aufgestanden, nur um nachzusehen, ob er noch da war. Mich zu vergewissern, dass ich nicht allein im Dunkeln war.
    Jetzt ist Phil auch hier, aber er sieht genauso verloren aus, wie ich mich fühle. Sein Kopf ist vor Erschöpfung auf die Tischplatte gesunken. Er hat sein Ohr an das Radio geschmiegt, als wolle er keinen einzigen Ton verpassen. Schläft er oder ist er wach?
    Ich würde ihm gerne die widerspenstige Locke aus dem Gesicht streichen. Ich würde ihm gerne ein Schlaflied vorsingen, wie meine Mutter das vor langer Zeit getan hat, als ich noch klein war und mich sichergefühlt habe. Angestrengt versuche ich mich an ihre Lieder zu erinnern. Doch das Einzige, was mir einfällt, ist das
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