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Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen

Titel: Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
Autoren: Robin Hobb
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erkannte, wandte sie ihr Gesicht so schnell ab, dass er wusste, wie sehr sie diesen Augenblick erwartet und gefürchtet hatte.
    Unter einem Vorwand blieb er am Fuß des Masts stehen, bis sie herunterkam. Sie ging knapp in Armlänge an ihm vorbei und warf ihm einen flehentlichen Blick zu. Er biss die Zähne zusammen und sagte nichts. Und er sprach auch später nicht mit ihr. Nachdem er sie erkannt hatte, erlebte er, wie furchtbar es sein konnte, Gewissheit zu haben. Sie würde die Reise nicht überstehen. Tag für Tag wartete er darauf, dass sie ihr wahres Geschlecht verriet oder einen kleinen Fehler beging, der sie das Leben kostete. Er hielt das nur für eine Frage der Zeit. Und er konnte ihr nur wünschen, dass es wenigstens ein schneller Tod sein würde.
    Jetzt jedoch schien es, als müsste es nicht unbedingt so sein. Er lächelte wehmütig. Das Mädchen konnte wirklich klettern.
    Sicher, sie war nicht kräftig genug, um die Arbeiten zu erledigen, die von ihr verlangt wurden. Jedenfalls nicht so schnell, wie der Erste Maat dieses Schiffes es erwartete. Es mangelt ihr nicht nur an Muskeln und Gewicht, dachte er. Sie machte ihre Arbeit eigentlich ganz gut, nur dass die Männer, neben denen sie arbeitete, viel schneller waren. Selbst ein paar Zentimeter größere Reichweite, das eine oder andere Kilo an Mehrgewicht, mit dem man sich gegen den Flaschenzug stemmen konnte, machten einen Unterschied aus. Sie war wie ein Pferd, das mit einem Ochsen verglichen wurde. Nicht, dass sie unfähig gewesen wäre, die Arbeit zu erledigen. Nur der Vergleich war unfair.
    Dazu kam, dass sie jetzt statt auf einem Zauberschiff auf einem aus bloßen Holz arbeitete. Ob Althea wohl jemals geahnt hatte, dass es so viel schwerer war, seine Kraft mit einem einfachen Holzschiff zu messen, als auf einem willigen Schiff zu arbeiten? Auch wenn die Viviace in den Jahren, in denen er an Bord war, noch nicht erwacht war, hatte Brashen schon bei der ersten Berührung eines Taus gemerkt, dass hier ein Bewusstsein schlummerte. Die Viviace war zwar weit davon entfernt, sich selbst segeln zu können, aber es war ihm immer so vorgekommen, als ob diese dummen Unfälle, die an Bord anderer Schiffe an der Tagesordnung waren, auf ihr nicht vorkamen. Auf einer Schaluppe wie der Reaper zog eine Arbeit die nächste nach sich. Die einfache Reparatur einer Türangel erwies sich als eine ungeheure Mühsal, wenn man entdeckt hatte, dass diese Türangel in verrottetem Holz eingelassen war, das ebenfalls ersetzt werden musste. An Bord der Reaper war nichts jemals einfach.
    Wie als Antwort auf seine Gedanken klopfte es an der Tür. Er hatte keine Wache, also bedeutete es vermutlich Ärger. »Ich bin wach!«, versicherte er dem Besucher. Einen Moment später war er auf den Beinen und riss die Tür auf. Aber es war nicht der Maat, der ihn in dieser stürmischen Nacht zu einer Extraschicht holte. Stattdessen trat Reller zögernd ein. Sein Gesicht war nass, und Wasser tropfte aus seinen Haaren.
    »Und?«, fragte Brashen.
    Der Mann runzelte die breite Stirn. »Die Schulter tut ein bisschen weh«, meinte er.
    Zu Brashens Pflichten gehörte auch die Verwaltung der medizinischen Vorräte. Sie hatten ihre Reise zwar mit einem Schiffsarzt angetreten, aber in einer stürmischen Nacht war der über Bord gegangen. Und nachdem sie herausgefunden hatten, dass Brashen die krakelige Schrift auf den Etiketten der verschiedenen Medizinflaschen und -schachteln lesen konnte, hatte man ihm die Verantwortung für die dürftigen medizinischen Vorräte übertragen. Er persönlich bezweifelte zwar die Wirksamkeit der meisten Ingredienzien, aber er verabreichte sie gemäß den Instruktionen auf den Etiketten.
    Also trat er jetzt an die verschlossene Truhe, die fast soviel Raum einnahm wie seine Seemannskiste, und fischte in seinem Hemd nach dem Schlüssel, der um seinen Hals hing. Er schloss die Truhe auf und holte eine braune Flasche mit einem auffälligen, grünen Etikett heraus. In dem schwankenden Licht versuchte er, die Aufschrift zu entziffern. »Ich glaube, das habe ich dir letztes Mal gegeben«, sinnierte er laut und hielt Reller die Flasche vor die Nase.
    Der Seemann starrte sie an, als würde er dadurch die Buchstaben verstehen können. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Das Etikett war auch so grün«, meinte er dann.
    »Gut möglich.«
    Brashen zog den fetten Korken aus dem dicken Hals und schüttete ein halbes Dutzend grünlicher Kügelchen auf die Handfläche. Sie sehen
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