Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
seiner Frau … Morse war ihr nur einmal, im vergangenen Jahr bei einem Polizeikonzert, begegnet. Sie war noch ziemlich jung, jedenfalls sehr viel jünger als er; recht hübsch, aber keine Frau, bei deren Anblick ihm die Knie weich wurden. Er meinte, sich erinnern zu können, daß sie Irene hieß. Oder Eileen? Nein, wohl Irene.
    Sein Whiskyglas war leer, und er blickte sich suchend um. Das junge Mädchen, das ihn bedient hatte, war nirgends zu sehen. Über den Zapfhähnen hingen ordentlich gefaltet die Wischtücher. Außer ihm war keine Menschenseele mehr da. Es hatte keinen Sinn, noch länger hier sitzen zu bleiben.
    Er ging die Treppe hinunter und trat hinaus in den warmen, dämmrigen Sommerabend. Ein großes Plakat neben dem Eingang, das fast die ganze Breite der Wand einnahm, verkündete in schwarzen und roten Lettern: ENGLISH NATIONAL OPERA, Montag, 1. Sept – Samstag, 13. Sept. Er spürte plötzlich ein Prickeln im Rücken. Montag, der 1. September. Das war der Tag, an dem Dick Ainley ums Leben gekommen war. Und der Brief war am 2. September aufgegeben worden. Am Tag darauf. Das konnte natürlich ein Zufall sein, vielleicht aber auch nicht. Es war denkbar, daß … Morse hielt inne. Er mußte aufpassen, daß er sich nicht zu voreiligen Schlußfolgerungen hinreißen ließ. Oder? Polizeilich verboten war es ja nicht … Ainley war also am 1. September, einem Montag, in London gewesen, und dort war irgend etwas geschehen, das ihn innerlich sehr beschäftigte. Hatte er dort etwa, nach mehr als zwei Jahren, Valerie Taylor gefunden? Es wäre doch möglich. Und auf Grund seines Besuches hatte sich Valerie gleich am nächsten Tag hingesetzt und nach Hause geschrieben – zum erstenmal seit ihrem Verschwinden. Morse geriet mit seinen Überlegungen ins Stocken. So ganz zufrieden war er nicht mit dem, was er sich zurechtgelegt hatte. Es gab da eine Ungereimtheit. Die Akte Taylor war zwar nicht abgeschlossen worden – natürlich nicht –, aber mangels neuer Spuren schon seit längerer Zeit auf Eis gelegt, und Ainley war mit etwas ganz anderem beschäftigt gewesen. Er war an den Ermittlungen wegen der Serie von Bombenattentaten in den letzten Monaten beteiligt gewesen. Warum also plötzlich wieder der Fall Taylor? Doch halt mal! Ainley war an seinem freien Tag nach London gefahren. Hatte er vielleicht …?
    Morse drehte um und ging ins Theater zurück. Ein livrierter Logenschließer informierte ihn, daß die Vorstellung erstens ausverkauft und zweitens bereits zur Hälfte vorbei sei. Morse bedankte sich und steuerte die Telefonkabine an. Der Logenschließer kam hinter ihm her und trat ihm fast auf die Hacken. »Ich bedaure, Sir, aber die Benutzung dieses Telefons ist nur unseren Besuchern gestattet.«
    »Stellen Sie sich mal vor, genau das bin ich«, sagte Morse, hielt ihm seine Karte unter die Nase und zog nachdrücklich die Tür hinter sich zu. Er schlug das Telefonbuch auf. Adderly … Allen, schon zu weit … Ainley. Es gab nur den einen – R. Ainley, Wytham Close 2, Wolvercote. Ob sie zu Hause war? Es war schon Viertel vor neun. Er hielt es gut für möglich, daß Irene oder Eileen, oder wie immer sie nun hieß, sich bei Freunden aufhielt. Oder sie war zu Verwandten gefahren. Sollte er es trotzdem versuchen? Eigentlich war das ganze Hin- und Herüberlegen völlig überflüssig. Am Ende würde er ja doch fahren. Er notierte sich die Adresse. Mit federnden Schritten ging er – an dem vorsichtig lächelnden Logenschließer vorbei – auf den Ausgang zu.
    »Auf Wiedersehen, Sir.«
    Auf dem Weg zu seinem Wagen, den er in der nahegelegenen St. Giles Street abgestellt hatte, kam Morse sein Benehmen auf einmal kindisch vor. Er hätte wirklich zurückgrüßen können. Der Mann tat schließlich nur seine Pflicht. – Wie ich, dachte Morse, nicht ohne eine Spur von Selbstmitleid, während er Oxford in Richtung Norden verließ, um nach Wolvercote zu fahren.

Kapitel Drei
     
    Ein Mann ist wenig nütze, wenn seine Frau Witwe ist
    Schottisches Sprichwort
     
    Am Kreisverkehr, wo die Woodstock Road nördlich von Oxford auf die Umgehungsstraße trifft, bog er scharf nach links, überquerte die Eisenbahnbrücke, auf der er als Junge gestanden und oft wie gebannt den Dampflokomotiven nachgeblickt hatte, und fuhr den Hügel hinunter nach Wolvercote.
    Der Ort selbst bestand nur aus den paar schmucklosen grauen Natursteinhäusern, die die Dorfstraße säumten. Morse kannte Wolvercote von früheren Besuchen – oder besser gesagt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher