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. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
Autoren: Colin Dexter
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beiseitezuschieben und sich wieder auf die Musik zu konzentrieren. Das scharfe Rascheln und Knistern jedesmal, wenn sie weiterblätterte, machte ihm dies nicht gerade leicht. Er beschloß, die Störung zu ignorieren. Sobald sich der Vorhang hob, würde sie die Beschäftigung mit der Partitur wohl ohnehin aufgeben. Aber ärgerlich war es schon. Plötzlich fiel ihm auf, daß es im Saal sehr heiß war, und er überlegte, ob er sich die Jacke ausziehen sollte. Im selben Augenblick wurde er gewahr, daß der Koloß links neben ihm in Bewegung geriet. Offenbar hatte er denselben Gedanken gehabt und war jetzt dabei, ihn in die Tat umzusetzen. An den Rand seines Sitzes gedrängt, verfolgte Morse in einer Art ohnmächtiger Faszination die Bemühungen seines beleibten Nachbarn, die Jacke loszuwerden. Von aufgebrachtem Zischen der Umsitzenden begleitet, brachte er sein Vorhaben schließlich zu einem guten Ende, hielt einen Moment inne und begann dann, sich schnaufend in die Höhe zu hieven, um das lästige Kleidungsstück unter sich hervorzuziehen. Sein Klappsitz schlug mit einem lauten Knall gegen die Rückenlehne, wurde wieder heruntergedrückt und gab, als der Dicke sich darauf niederließ, eine Art Stöhnen von sich. Erneutes Zischen in der Umgebung – dann endlich herrschte in Reihe ›J‹ wieder Ruhe und Frieden.
    Die Bebrillte war allerdings noch immer mit ihrer Taschenlampe zugange – für Morses empfindsames Gemüt eine unschöne Beeinträchtigung seines Kunstgenusses. Aber mit so etwas mußte man vielleicht rechnen. Wagnerianer waren eben eine Spezies für sich.
    Morse schloß die Augen, um sich ganz den vertrauten Klängen hinzugeben. Im ersten Moment glaubte er, der kräftige Knuff sei dazu bestimmt, seine Aufmerksamkeit zu erregen, doch als er sich mit fragendem Blick zur Seite wandte, wurde ihm klar, daß dem Dicken mitnichten an Kommunikation gelegen war, daß der Rippenstoß vielmehr Teil seiner raumgreifenden Bemühungen war, an ein Taschentuch zu gelangen. Bei dem sich noch ausweitenden zähen Kampf fand Morse plötzlich einen Zipfel seines Jacketts unter der Leibesfülle des Nachbarn eingeklemmt. Sein vorsichtiger Versuch, ihn dort wieder hervorzuziehen, trug ihm einen strafenden Blick der Bebrillten ein.
    Gegen Ende des ersten Aufzugs war Morses Stimmung auf dem Nullpunkt angelangt. Siegmund krächzte mehr, als daß er sang, Sieglinde schwitzte fürchterlich, und hinter ihm knisterte irgendein Banause unaufhörlich mit seiner Bonbontüte. In der Pause flüchtete er an die Bar, ließ sich erst einen Whisky geben, und gleich hinterher noch einen. Als es zum zweiten Aufzug klingelte, bestellte er sich den dritten. Das junge Mädchen, das eben hinter ihm gesessen und den Hals hatte recken müssen, um über seine Schulter zu sehen, hatte während der beiden noch folgenden Aufzüge einen freien Blick auf die Bühne. Offenbar veranlaßte sie das, ihren Süßigkeitenkonsum eher noch zu steigern, denn mit der zweiten Tüte Bonbons war sie noch schneller fertig als mit der ersten.
    Es muß allerdings gesagt werden, daß wohl auch unter weniger ungünstigen Umständen die Oper an diesem Abend wohl kaum Morses ungeteilte Aufmerksamkeit gefunden hätte, denn immer wieder kreisten seine Gedanken um das Gespräch mit Strange – und um Ainley. Vor allem um Ainley. Chiefinspector Ainley … Morse hatte ihn nicht gut gekannt. Nicht wirklich gut. Ein ruhiger Typ. Freundlich, aber nicht mehr. Ein Einzelgänger. Morse hatte ihn immer etwas fade gefunden. Zurückhaltend, vorsichtig, einer, der sich an die Vorschriften hielt. Verheiratet, keine Kinder. Daran würde sich nun auch nichts mehr ändern, denn Ainley war tot. Nach Aussage eines Augenzeugen hatte er den Unfall selbst verursacht: er war ausgeschert, um zu überholen. Offenbar hatte er den Jaguar, der sich ihm von hinten mit hoher Geschwindigkeit näherte, nicht bemerkt. Es war auf der M 40 in der Nähe von High Wycombe passiert. Der Fahrer des Jaguar war wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Aber Ainley hatte es erwischt. So ein unbedachtes Manöver sah ihm eigentlich nicht ähnlich. Vielleicht war er mit seinen Gedanken woanders gewesen … Er hatte für die Fahrt nach London den eigenen Wagen benutzt und war an seinem freien Tag unterwegs gewesen. Das war erst elf Tage her. Die Nachricht von seinem Tod war natürlich für alle, die ihn gekannt hatten, ein Schock gewesen, aber da war niemand, der wirklich um ihn trauerte und ihn vermißt hätte. Mit Ausnahme
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