Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
wollten?«
    Sie nickte. »Ich glaube, ich weiß sogar, worüber er sich Gedanken machte. Es war diese Sache mit dem Mädchen, das von zu Hause verschwunden war – Valerie Taylor.«
    »Woraus haben Sie das geschlossen?«
    »Ich habe zufällig gehört, wie er mit dem Direktor ihrer Schule telefoniert hat.« Sie war ein bißchen rot geworden. Offensichtlich schämte sie sich, etwas mitbekommen zu haben, das nicht für sie bestimmt gewesen war.
    »Können Sie noch sagen, wie lange das her ist?«
    »Ungefähr vierzehn Tage, vielleicht auch drei Wochen.«
    »Aber es waren doch seit Anfang August Schulferien.«
    »Richard hat ihn wohl zu Hause angerufen. Ein paar Tage später hat er ihn dann auch noch aufgesucht.«
    Morse fragte sich, was sie wohl sonst noch alles wußte. »An seinem freien Tag?«
    Sie nickte langsam und sah Morse dann an. »Warum wollen Sie das alles so genau wissen?«
    Morse holte tief Luft. »Ich hätte es Ihnen gleich zu Anfang sagen sollen: der Fall Taylor wird neu aufgerollt, und man hat mir die Ermittlungen übertragen.«
    »Dann muß Richard etwas herausgefunden haben.«
    »Wenn ich nur wüßte, was«, sagte Morse.
    »Und deshalb sind Sie heute abend hier herausgekommen.« Morse schwieg.
    Eileen Ainley stand abrupt auf und ging mit schnellen Schritten quer durchs Zimmer zu einem Sekretär. »Die meisten seiner Sachen sind schon weg, aber den Taschenkalender hier habe ich noch behalten. Er hatte ihn bei sich, als es passierte.« Sie legte ihn vor Morse auf den Tisch. »Außerdem ist da noch ein Brief für die Buchhaltung im Präsidium. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie den für mich abgeben könnten.«
    »Selbstverständlich«, sagte er förmlich. Ihre plötzliche Kälte traf ihn. Aber es war leicht, ihn zu treffen. Er hatte keine besonders dicke Haut.
    Eileen verließ das Zimmer, um den Brief zu holen. Kaum daß sie draußen war, nahm Morse den Kalender und blätterte ihn hastig durch, bis er beim 1. September war. In Ainleys gestochener, auffallend kleiner Schrift stand dort eine Adresse notiert – Southampton Terrace 42. Das war alles. Morse spürte wieder das Prickeln im Rücken. Auch ohne daß er einen Stadtplan von London hätte zu Rate ziehen müssen, war er sich völlig sicher, zu welchem Postbezirk die Straße gehörte. Er würde natürlich trotzdem noch einen Blick auf den Plan werfen. Aber er wußte im voraus, was er finden würde: Southampton Terrace lag in EC4.
    Um Viertel vor elf war er wieder in seinem Haus, das er als Junggeselle bewohnte. Er machte sich sofort auf die Suche nach dem Stadtplan und entdeckte ihn nach einigen Minuten im Bücherregal hinter Swinburnes Gesammelten Werken und einem Band Ausgewählter Beispiele viktorianischer Pornographie. Den hatte er schon längst an einen weniger ins Auge fallenden Platz stellen wollen. Eilig überflog er das Straßenverzeichnis. Als er die Straße endlich hatte, zog er ungläubig die Augenbrauen zusammen. Er öffnete den Plan und suchte mittels der angegebenen Koordinaten das betreffende Planquadrat auf. Der Ausdruck von Verwunderung auf seinem Gesicht wandelte sich zu Enttäuschung. Southampton Terrace war eine der vielen Nebenstraßen der Upper Richmond Road, südlich der Themse, jenseits der Putney Bridge. Postbezirk SW12. Er fand auf einmal, daß er für heute genug getan habe und es an der Zeit sei, sich etwas Entspannung zu gönnen.
    Er legte den Stadtplan beiseite, brühte sich eine Tasse Instantkaffee, kniete sich vor das Regal mit den ihm teuren Wagner-Platten und entschied sich nach einigem Nachdenken für die von Solti dirigierte Aufnahme der Walküre . Kein dicker Mann und keine bebrillte Spröde weit und breit, die ihn hätten irritieren können. Kein heiserer Tenor, kein schwitzender Sopran, die ihm die Freude an der Oper verdarben. Unbehelligt von Widrigkeiten jedweder Art lauschte er hingerissen, wie Siegmund und Sieglinde sich verströmten in einer Ekstase des Erkennens. Der Kaffee neben ihm auf dem Tisch wurde kalt.
    Es gelang Morse immer nur unvollkommen und für kurze Zeit, die Probleme, die er vom Dienst mit nach Hause brachte, zu vergessen. Die erste Seite war noch nicht ganz abgespielt, da war er, ohne es gleich zu merken, in Gedanken schon wieder dabei, eine neue, überaus interessante Hypothese zu entwickeln, derzufolge Ainleys Besuche in London mit großer Wahrscheinlichkeit einen sehr naheliegenden Grund gehabt hatten. Daß er darauf nicht gleich gekommen war! Freier Tag und sehr beschäftigt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher