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. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
Autoren: Colin Dexter
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Ende abzusehen war. Aber das alles blieb ihm ja nun zum Glück erspart. Er konnte aufatmen. Doch schon ließ ihn ein neuer Gedanke wieder unruhig werden: Warum gerade jetzt? Warum ausgerechnet heute, Freitag, den 12. September – zwei Jahre, drei Monate und … wieviel? … zwei Tage, nachdem Valerie Taylor auf dem Weg von ihrem Elternhaus zurück zur Schule am hellichten Mittag verschwunden war? Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich nehme an, es hat sich etwas Neues ergeben?«
    Strange nickte. »Ja.«
    Das war eine gute Nachricht. Er würde darum bitten, Sergeant Lewis für den Fall freizustellen. Er mochte Lewis.
    »Und ich bin sicher, daß Sie genau der richtige Mann für diese Aufgabe sind.«
    »Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Sir.«
    »Vor ein paar Minuten hatte ich nicht diesen Eindruck.«
    »Um ehrlich zu sein, Sir, ich hatte anfangs vermutet, es handle sich um eine dieser unerfreulichen Vermißtensachen.«
    »Da haben Sie ganz richtig vermutet.« Stranges Stimme war plötzlich von einer unnachgiebigen Härte. »Und damit kein falscher Eindruck entsteht: Es kann keine Rede davon sein, daß ich Sie bitte, den Fall zu übernehmen, sondern ich ordne es hiermit an.«
    »Aber wir waren doch eben noch beide derselben Meinung wie Ainley, daß …«
    »Sie waren der Meinung. Es hat sich herausgestellt, daß Ainleys Annahme falsch war. Valerie Taylor ist höchst lebendig.« Er ging zu einem der Aktenschränke, schloß ihn auf und entnahm ihm einen einfachen braunen Briefumschlag, an dem mit einer Büroklammer ein schmaler Bogen billigen Briefpapiers befestigt war. Er gab beides Morse. »Sie können es ruhig in die Hand nehmen. Es war schon im Labor – keine Fingerabdrücke. Da hat sie nun endlich doch noch nach Hause geschrieben.«
    Morse sah unglücklich auf die drei kurzen, mit ungelenker Hand geschriebenen Zeilen:
     
    Liebe Mami, lieber Papi,
    nur damit Ihr Bescheid wißt, daß ich gesund bin, und Euch keine Sorgen macht. Es tut mir leid, daß ich Euch nicht eher geschrieben habe, aber es geht mir gut.
     
    Viele liebe Grüße,
    Eure Valerie
     
    Der Briefumschlag trug keinen Absender. Morse entfernte die Büroklammer und betrachtete den Poststempel. Der Brief war am Dienstag, dem 2. September, in London EC4 aufgegeben worden.

Kapitel Zwei
     
    Wenn man dort schon singt, lasse man sich ruhig (!) ni e der
    Wort mit O, vier Buchstaben
     
    Links von ihm saß ein ungeheuer dicker Mann. Er war sehr knapp vor Beginn der Ouvertüre hereingekommen und hatte sich unter kurzatmig hervorgestoßenen Entschuldigungen ächzend die Reihe entlang zu seinem Platz gequält, einem Schwertransporter nicht unähnlich, der unter Schwierigkeiten eine schmale Brücke passiert. Nachdem er glücklich seinen Sitz erreicht und sich in seiner ganzen erstaunlichen Leibesfülle niedergelassen hatte, stand ihm vor lauter Anstrengung der Schweiß auf der Stirn, und er rang nach Luft wie ein gestrandeter Wal.
    Morse zur Rechten saß eine spröde wirkende junge Dame mit Brille in einem langen dunkelroten Kleid. Auf ihren Knien hielt sie die umfangreiche Partitur. Morse hatte ihr, als er seinen Platz einnahm, höflich zugenickt, woraufhin sich ihre Lippen den Bruchteil einer Sekunde lang zu der Andeutung eines Lächelns verzogen hatten, bevor ihr Gesicht wieder einen Ausdruck frostiger Reserviertheit annahm. Morse konnte sich angenehmere Gesellschaft vorstellen.
    Aber es blieb ihm ja der Genuß der wunderbaren Musik. Er dachte an das ergreifende Liebesduett im ersten Aufzug. Hoffentlich war der Sänger des Siegmund seiner Partie gewachsen, denn diese Tenorpassage war mit das Schönste, was klassische Oper zu bieten hatte – aber eben auch sehr schwierig. Der Dirigent schritt durch den Orchestergraben, bestieg das Podium und bedankte sich mit einer liebenswürdigen Verbeugung für den Begrüßungsapplaus. Das Licht erlosch, und Morse lehnte sich mit einem Gefühl freudiger Erwartung zurück. Nachdem auch das letzte Husten schließlich verstummt war, hob der Dirigent seinen Stab. Die Wa l küre hatte begonnen.
     
    Nach kaum mehr als zwei Minuten fühlte sich Morse auf einmal abgelenkt. Er warf einen schnellen Seitenblick nach rechts und stellte fest, daß die bebrillte junge Dame neben ihm von irgendwo eine Taschenlampe hervorgeholt hatte und den Lichtstrahl, den Noten folgend, über die Partitur gleiten ließ. Der langsam hin- und herwandernde Schein ließ Morse unwillkürlich an einen Leuchtturm denken. Gereizt versuchte er, das Bild
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