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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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Boden gestanden hatte. Eine Flasche. Sie fiel um, doch sie ging nicht kaputt. Einen Moment starrten wir beide die Flasche an. Es war eine Schnapsflasche.
    Und plötzlich roch ich den Schnaps. Der Geruch kam nichtaus der Flasche. Die Flasche war zugeschraubt. Der Geruch kam von meinem Vater.
    »Du bist betrunken«, sagte ich ganz leise. »Warum bist du betrunken?«
    Einen Moment lang verschwand die Wut aus dem Gesicht meines Vaters, und eine unendliche Traurigkeit trat an ihre Stelle. Ich streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu trösten – doch ehe meine Hand ihn erreichte, kam die Wut zurück. Mein Vater schlug meine Hand weg. Und dann holte er aus und schlug noch einmal zu. Diesmal schlug er mich ins Gesicht. Er schlug mit solcher Kraft, dass ich das Gleichgewicht verlor und hinfiel.
    Als ich aufsah, stand über mir nicht mein Vater. Dort stand ein Fremder.
    Er hatte die äußere Form meines Vaters, aber er war es nicht. Er verströmte eine Dunkelheit, von innen heraus, die dunkler war als alle Nächte der Welt. Ich lag ganz still auf dem Boden und sah zu ihm auf.
    »Ja, das willst du wohl wissen, warum dein Vater betrunken ist, wie?«, schrie er. »Und ich werde es dir sagen! Weil er keine Arbeit mehr hat! Weil sie ihn entlassen haben! Die Werft muss jetzt sparen, es sind schwere Zeiten, ha, schwere Zeiten! Sie haben alle Hilfsarbeiter entlassen. Wenn er was gelernt hätte, dein feiner Vater, dann hätte er noch Arbeit. Nur hat er nichts gelernt. Er kann nicht rechnen, er hat keinen richtigen Schulabschluss, und er war nichts als ein Hilfsarbeiter!«
    Der Fremde über mir holte wieder aus, und ich legte dieArme schützend über meinen Kopf, doch das machte ihn nur noch wütender.
    »Einen Verlierer!«, schrie er. »Einen Verlierer hast du zum Vater! Einen betrunkenen Verlierer! Verlierer! Verlierer!«
    Bei jedem »Verlierer« schlug er zu, die Schläge prasselten auf mich herab wie ein Unwetter, die Arme über meinem Kopf nützten nichts, er traf mich trotzdem. Es gab kein Entkommen. Und dann war alles ganz plötzlich vorbei.
    Der Fremde drehte sich um und ging über den Hof davon.
    Ich sah, wie er die Flasche aufhob, ich sah es mit dem rechten Auge, denn das linke war zugeschwollen. Der Fremde nahm die Flasche mit und ging mit ihr durch das Hoftor davon. Wie schwer und dunkel seine Schritte waren! Nachdem er fort war, lag ich lange auf dem Boden und dachte an das helle Licht, das die weiße Königin stets umgab. Dieser Fremde, der meinen Vater beschimpfte, dachte ich, war in allem das Gegenteil der weißen Königin.
    Und so nannten ich ihn den schwarzen König.
    Irgendwann stand ich auf und ging ins Haus. Es war sehr still. Ich drehte den Wasserhahn auf ganz kalt und hielt mein Gesicht unter den Wasserstrahl. Die Kälte nahm die Schmerzen fort, die der schwarze König hinterlassen hatte.
    Weder er noch mein Vater kamen an diesem Abend wieder. Ich fütterte die Ziegen und die Hühner und machte meine Mathehausaufgaben und starrte den Fernseher an, auf dem die Leute heute grüne Haare hatten, wegen der Bildstörung. Schließlich ging ich ins Bett. Irgendwann hörte ich, wie die Haustür sich öffnete, und ich lag ganz still und lauschte undatmete meine Angst lautlos ein und aus. Schritte kamen die Treppe herauf, verharrten kurz vor der Tür zu meinem Zimmer – und gingen weiter zum Zimmer meines Vaters. Gleich darauf hörte ich, wie dort ein müder Körper aufs Bett fiel.
    Ich lag allein in der Nacht.
    Ich weiß nicht, wie lange ich so dort lag. Ich konnte nicht schlafen. Ich dachte an die weiße Königin und ihre Worte, und ich machte einen Verband aus diesen Worten: Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall … Ich legte die Worte um meinen Kopf wie eine kühlende Eispackung. Wie sehr wünschte ich, ich hätte in einer Geschichte aus solchen Worten leben können!
    »Ich brauche mehr Worte«, flüsterte ich vor mich hin. »Viel mehr Worte! Ich muss die weiße Königin wiedersehen, dringend!« Aber ich wusste nicht, wie lange ihre Reise dauern würde, und ich hatte das Gefühl, dass es lange wäre.
    In diesem Moment klopfte jemand an mein Fenster. Mein Fenster ist im ersten Stock, und es hatte noch nie jemand daran geklopft. Ich erschrak. Alle unheimlichen Stellen, die die weiße Königin je vorgelesen hatte, fielen mir ein. War der schwarze König dort draußen, vor meinem Fenster? Saß er in der Luft, auf einem schwebenden schwarzen Pferd? Ich stand auf und knipste das Licht neben meinem Bett an, das
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