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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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passiert ist. Jetzt sind nur noch die anderen Seeadler da, die sehe ich manchmal im Wald. Aber mein Seeadler ist nicht zurückgekommen. Er hat einen Ring am linken Bein, daran kann man ihn erkennen. Ich warte auf ihn.«
    »Ja«, sagte die weiße Königin, »warte auf ihn, das ist gut. Man braucht etwas, auf das man warten kann.«
    »Worauf warten Sie?«, fragte ich.
    Sie lächelte. »Auf den Tod«, antwortete sie.
    Da erschrak ich und griff nach ihrer Hand. Ihre Hand war mager und zerbrechlich. Aber als sie meine drückte, hatte sie so viel Kraft wie ein Mann. Ich drückte zurück, und so standen wir eine Weile schweigend am Tor.
    »Wenn ich herkomme«, flüsterte ich schließlich, »ist da manchmal ein Schatten im Wald.«
    »Von einem Adler?«
    »Nein«, flüsterte ich, »von einem Kind. Es läuft immer weg.«
    »Vielleicht hat es Angst.«
    »Das glaube ich nicht«, wisperte ich. »Ich glaube, es will, dass ich ihm folge. In den Wald. Es wohnt da. Es will, dass ich mitkomme.«
    »Zu den Adlern?«, fragte die weiße Königin.
    »Ja«, antwortete ich, »zu den Adlern.«
    Es war Herbst, und die roten Blätter rieselten um ums herum durch die Luft wie Farbspritzer. Eines hatte sich im hellen Haar der weißen Königin verfangen. Sie schien zu zögern.
    »Lion«, sagte sie leise, »ich werde nächste Woche nicht vorlesen. Ich werde für eine Weile verreisen.«
    »Wohin?«, fragte ich, und meine Stimme war ganz klein.
    »Ich möchte eine Menge Leute besuchen«, sagte die weiße Königin. »Alte Freunde, die ich lange nicht mehr gesehen habe. Es wird eine ziemlich weite Reise.«
    Ich nickte. Ich wollte sie fragen, wann sie wiederkomme, aber ich fragte nicht. Die weiße Königin sah mich noch einen Moment an, dann nickte sie und ging hinüber zu ihrem Auto. Jemand öffnete ihr die Tür von innen. Jemand hatte im Auto auf sie gewartet. Ich hatte immer gedacht, sie käme allein.
    Ich beschloss, den Jemand im Auto zu vergessen. Ich wollte der Letzte sein, der an jenen Lesenachmittagen mit der weißen Königin sprach. Der Letzte, der an jenem besonderen Nachmittag mit ihr gesprochen hatte.
    Vor ihrer langen, langen Reise.

3. Kapitel
    Die Worte der weißen Königin
    E in paar Tage nach der Geschichte über den Mungo war mein Vater schon zu Hause, als ich von der Schule kam. Er saß an dem alten verwitterten Klapptisch im Hof und rauchte. Drinnen lief der Fernseher ganz für sich allein.
    Mein Vater saß in der Spätnachmittagssonne, und die Luft roch nach Herbst.
    »Hallo«, sagte ich. »Das ist aber gut, dass du da bist! Ich habe in Mathe eine Hausaufgabe, die ich nicht verstehe. Kannst du mir helfen?«
    »Na«, sagte mein Vater, »zeig mal her. Wollen doch mal sehen, ob ich Zweitklassmathe noch begreife.« Und er lachte ein wenig, weil er Zweitklassmathe natürlich mit links begriff.
    Er beugte sich über mein Buch, nahm einen von meinen Stiften und begann zu rechnen. Er rechnete und rechnete, kritzelte Zahlen an den Rand meines Heftes und strich sie wieder durch, und schließlich knurrte er und warf den Stift hin. Da sah ich, dass sein Gesicht ganz grau war. Wie alte Asche. Gleichzeitig sah ich, wie man richtig rechnen musste. Plötzlich war mir alles klar, und darüber vergaß ich das Aschegesicht meines Vaters.
    »Ich hab’s!«, rief ich. »Warte, ich erkläre es dir …«
    »Du musst mir nicht erklären, wie man rechnet«, schnaubte mein Vater.
    »Aber ich kann es dir erklären«, sagte ich in meiner Begeisterung. »Ich habe es gerade jetzt begriffen!«
    Da zerbrach mein Vater den Stift. Ich zuckte zusammen und sah wieder in sein Gesicht. Und jetzt fand ich in seinen Augen etwas, das nicht dorthin gehörte. Einen fremden Blick. Der Blick hatte rote Ränder und ein sehr dunkles Zentrum.
    »Du glaubst, du bist verdammt schlau, ja?«, rief er und sprang so plötzlich auf, dass sein Klappstuhl umfiel. »Weil du einer alten Frau beim Vorlesen zuhörst? Du glaubst, du bist besser als ich, weil du mehr Worte im Kopf hast, ja?«
    »Nein«, sagte ich und machte mich klein. Ich hatte Angst vor den roten Rändern in den Augen meines Vaters. »Aber es sind schöne Worte. Ich könnte dir welche davon schenken.«
    »Worte kann man nicht verschenken!«, rief mein Vater. »Du redest wie ein Buch, nicht wie mein Sohn!«
    Ich stand ebenfalls auf. »Ich bin dein Sohn!«, sagte ich. »Nur deiner!«
    Ich ging einen Schritt auf meinen Vater zu. Mein Vater trat einen Schritt zurück. Und dabei stieß er an etwas, das neben dem Tisch auf dem
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