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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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Automechaniker vielleicht. Oder Schweißer. Dann findest du Arbeit.«
    »Gut«, sagte ich. Ich sagte meinem Vater nicht, dass man auf meiner Schule nichts lernen konnte. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Ich nahm mir vor, wenigstens irgendetwas zu lernen. Wenigstens Lesen.
    »Habe ich eine Schwester?«, fragte ich meinen Vater beim Frühstück.
    »Nein«, sagte er. »Wie kommst du darauf?«
    »Ach«, murmelte ich, »nur so.«
    Am nächsten Samstag hatte ich es so eilig, zur Kirche in Wehrland zu rennen, dass ich eine Stunde zu früh dort ankam. Vielleicht, dachte ich, war die weiße Königin ja schon wieder da. Vielleicht hatte sie Heimweh bekommen und war früher von ihrer Reise zurückgekehrt, um für uns zu lesen.
    Die weiße Königin kam nicht.
    Ich ging erst nach Hause zurück, als es dunkel wurde.
    Im Wald war nirgendwo ein huschender Schatten. Alle schienen fortgegangen zu sein.
    Mein Vater fand keine neue Arbeit. Und die weiße Königin kam nicht wieder.
    Ich wartete jeden Samstag auf sie, immer von vier bis sieben.
    Ich stand am Tor und versuchte, mich an die Worte der weißen Königin zu erinnern. Aber alles, was geblieben war, war Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall und Rikki Tikki Tavi und das Wort Mungo .
    Schließlich wanderte ich nicht mehr zur Kirche. Die weiße Königin und ihre Worte rutschten in den Teil meines Lebens, der Vergangenheit war. Und das Bild der alten Dame auf ihrem Klappstuhl in der Kirche begann zu verblassen.
    Wir bekamen jetzt Geld von irgendeinem Amt, und zuerst reichte es auch. Gerade so. Manchmal sagte mein Vater: »Jetzt haben sie vielleicht bald Arbeit für mich.« Aber irgendwann wurde aus dem Vielleicht immer ein Doch-nicht.
    Ich begleitete meinen Vater häufiger durch die Wälder als früher, denn er hatte jetzt mehr Zeit, und oft sahen wir die Seeadler fliegen. Dann legte mein Vater jedes Mal sein Gewehr an und zielte, aber er drückte selten ab, denn er wusste, dass sie dort oben in der Luft zu wendig waren. Der Seeadler damals, im Winter, war eine Ausnahme gewesen.
    Keiner der Adler, die wir sahen, trug einen Ring am Bein.
    Manchmal schwebten sie über unser Haus, ihre Schatten glitten über den Hof, und mein Vater rief den Schatten wüste Flüche nach. Und ich begann zu begreifen, weshalb er die Seeadler so hasste. Es lag nicht daran, dass sie unsere Ziege gefressen hatten. Es lag daran, dass sie so frei waren, so stark und so schön.
    Sie waren keine Verlierer. Das ganze Land gehörte ihnen, das ganze Meer, der ganze Wald und alle Felder, und kein Amt konnte ihnen sagen, was sie zu tun und zu lassen hatten undwelchen Schulabschluss man brauchte, um wichtig für eine Werft zu sein.
    Ab und zu sah ich auch Olin im Wald, von Weitem, zwischen den Bäumen. Wenn mein Vater es nicht merkte, winkte ich. Und Olin hob die Hand und winkte zurück.
    Mein Vater traf sich jetzt von Zeit zu Zeit mit den Männern aus den anderen Dörfern. Sie schimpften gemeinsam über das Amt, das ihnen zu wenig Geld gab, denn sie waren alle arbeitslos. Wenn er nach Hause kam, roch ich, dass er Bier getrunken hatte, und manchmal war es zu viel Bier. Und dann wurde es häufiger zu viel Bier, und schließlich kam der schwarze König wieder.
    Zuerst stattete er uns nur kurze Besuche ab, alle paar Wochen. Ich sah seine rot geränderten Augen und hörte ihn knurren wie einen Wolf, und er wurde wegen der kleinsten Kleinigkeiten wütend und brüllte herum. Ich ging ihm aus dem Weg. Wenn der schwarze König sehr wütend wurde, schlug er zu. Ich lernte, mich wegzuducken und mich im Schuppen zu verstecken, wo er mich nicht fand. Wenn er meinen Vater wieder freiließ, sah ich, dass ihm leidtat, was geschehen war. Doch wir sprachen nie mehr darüber. Mein Vater konnte nichts gegen den schwarzen König tun. Ich musste allein sehen, wie ich zurechtkam.
    Und ich erinnerte mich daran, was ich in der Nacht gedacht hatte, in der Olin am Fenster gewesen war. Ich hatte gedacht, dass ich mehr Worte brauchte: Worte, die mich vor dem schwarzen König schützten, Worte wie Schilde, Worte wie Rüstungen und Helme.
    Ich bemühte mich in der Schule, schneller und besser lesen zu lernen. Alles andere war unwichtig, ich musste nur lesen lernen, und es gelang mir. Aber ich musste die Worte wiederfinden, die Bücher, die die weiße Königin vorgelesen hatte, und das war nicht so leicht.
    Ich versuchte es mit den Büchern in der Schule, doch in diesen Büchern gab es keine klingenden Worte. Zu Hause hatten wir nur ein paar
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