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Worte der weißen Königin

Worte der weißen Königin

Titel: Worte der weißen Königin
Autoren: A Michaelis
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ich. Was meinte sie damit?
    »Ich finde die Idee schön«, murmelte sie, »dass man mehrmals leben kann. Dass man eine zweite Chance bekommt. Ich glaube, es ist etwas Wahres dran. Alles geschieht zweimal. Mindestens.«
    »Alles geschieht zweimal«, murmelte ich und war mir schon wieder nicht sicher, was sie meinte.
    »Auf jeden Fall kann man nicht beweisen, dass irgendein Käfer oder Adler kein Großvater war.« Sie lachte. »Am sichersten ist es also, man benimmt sich zu allen gut.«
    »Aber die Hasen«, sagte ich, »können die auch Großväter sein? Oder Großmütter? Gestorbene? Wenn man Hunger hat, und man isst aus Versehen die eigene Großmutter …«
    »Hunger ist eine Ausnahme«, sagte die alte Dame. »Auf Wiedersehen, Lion. Bis nächsten Samstag.«
    »Bis nächsten Samstag«, sagte ich.
    Und so kam es, dass ich jeden Samstag zwei Stunden nach Wehrland wanderte, um die weiße Königin in der Kirche aus Büchern vorlesen zu hören, von denen ich nichts verstand. Oder alles. Und jeden Samstag wuchsen der unsichtbaren Hecke zwischen mir und meinem Vater ein paar neue Blätter, sodass man sich noch schlechter durch sie hindurch unterhalten konnte.
    An manchen Samstagen sah ich im Wald den Schatten eines Kindes.
    Im Mai stand ich mit meinem Vater im Hof, und er lauschte in den Abend und sagte: »Hörst du das, Lion?«
    Auf seinem Gesicht lag ein Leuchten, vielleicht, weil es ein so warmer Abend war und weil er an den Sommer dachte, der kam.
    Ich lauschte. »Das Singen?«
    »Ja, das Singen. Das ist die Nachtigall.«
    »Die aus der Geschichte!«, rief ich. »Von der Kö… von der alten Frau in der Kirche!«
    Da verschwand das Leuchten aus dem Gesicht meines Vaters.
    »Du und deine Geschichten«, sagte er und ließ mich allein im Hof stehen.
    Ich kam auf die Förderschule in der Stadt. Mein Vater konnte mir nicht helfen mit dem Lernen, er arbeitete bis abends auf der Werft, und am Wochenende gab es andere Dinge zu tun als lesen und rechnen.
    So ging es den anderen Kindern auch, und deshalb waren die meisten von uns auf der Förderschule, denn das war die, auf der man am wenigsten können musste. Der Förderschulbus war voller Kinder aus den Dörfern.
    Die großen Schüler standen den ganzen Tag vor der Schule und rauchten, auch wenn Unterricht war. Unsere Lehrerin schrie herum, aber die anderen Kinder schrien lauter. Es sah nicht aus, als würde ich auf dieser Schule etwas lernen. Nun, das war egal, denn was ich wissen musste, lernte ich von meinem Vater – und aus den Geschichten der weißen Königin.
    Wenn ich jetzt an die weiße Königin denke, kommt es mir vor, als hätte ich sie die ganze Kindheit hindurch gekannt. Als hätte meine ganze Kindheit aus ihren Geschichten bestanden, ihren wundervollen Worten. Dabei waren es nicht einmal zwei Jahre. Ich verstand mehr und mehr von den Geschichten, und wenn die anderen Kinder in der Kirche tuschelten, ärgerteich mich, denn ich durfte keines der Worte verpassen. Meine Augen kleben an den Lippen der weißen Königin, während sie sprach, und manchmal sprach sie auch mit mir, nach dem Vorlesen, draußen am Tor.
    »Dieses Tier in der Geschichte«, sagte ich einmal, »Rikki Tikki Tavi, was war das noch für ein Tier?«
    »Ein Mungo«, antwortete die weiße Königin. »Die gibt es hier nicht.«
    »Kann ein Mungo fliegen?«, fragte ich. »Sieht er so ähnlich aus wie ein Adler?«
    Die weiße Königin schüttelte den Kopf, und eine weiße Strähne löste sich aus ihrem Haarknoten. »Ein Mungo sieht eher so aus wie ein Marder«, sagte sie.
    Aber sie sah wohl die Enttäuschung in meinen Augen, denn sie fügte rasch hinzu: »Auf gewisse Weise ist natürlich jeder wie ein Adler. Der Mungo. Und du. Und ich.«
    Das waren wieder Worte, die ich nicht ganz verstand, und ich schob sie beiseite, um später darüber nachzudenken.
    »Ich kenne nämlich einen Adler«, sagte ich, »der hat so einen Namen wie dieser Mungo. Rikikikri. Das ist sein Ruf, und deshalb ist es auch sein Name. Rikikikri …«
    Ich merkte, wie lächerlich es sich anhörte – wie ein kranker Hahn. Aber die weiße Königin nickte ernst.
    »Ein Seeadler«, sagte sie. »Ich beobachte sie oft. Sie sind so riesig, man würde nicht denken, dass sie etwas rufen wie Rikikikri. Aber genau das rufen sie, du hast recht. Wo wohnt dein Seeadler? Kennst du seinen Horst?«
    »Nein«, sagte ich. »Als ich ihn zuerst gesehen habe, warer noch jung. Er hatte noch keinen Horst. Dann ist er fortgeflogen, weil etwas Schreckliches
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