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Wolkentaenzerin

Wolkentaenzerin

Titel: Wolkentaenzerin
Autoren: Nichole Bernier
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Kinder nicht hören lassen wollte – Terroristen, Bedrohung . Sie drehte die hinteren Lautsprecher herunter und wünschte sich, das Radio komplett abschalten zu können. Ihr Leben lang war sie ein Nachrichtenjunkie gewesen, doch jetzt war die Informationsflut unwillkommen. Sie berührte die Metallspiralen des Notizbuchs auf ihrem Schoß und sah dann im Rückspiegel zu der Truhe, die über der Luftmatratze eingeklemmt war. Es war eine massive kleine Reisetruhe mit gewölbtem Deckel, mit einer dicken Schicht Schellack versehen und wer weiß wie alt, vielleicht hundert Jahre oder älter. Die Art von Truhe, die sie alle überleben würde. Sie hatte schon damit begonnen.
    Chris fuhr nach Norden auf der I-95, parallel zum Atlantik, an einer kleinen, von Seegras eingefassten Bucht des Long Island Sound entlang. Das Wasser sah in der Dämmerung solide wie eine Teerdecke aus, die umliegenden Häuser wie eine dunkle Sackgasse. Sie blätterte in dem Tagebuch. Nur die ersten Seiten waren beschrieben. Der Einband war wie neu und nicht beklebt.
    Egal wie oft Kate im vergangenen Monat versucht hatte, sich vorzustellen, was Elizabeth von ihr erwartet haben mochte, als sie ihr die Bücher vermachte, fielen ihr doch nur immer wieder die gleichen wenigen Möglichkeiten ein. Sie konnte die Tagebücher in einem Schließfach für die Kinder verwahren. Sie konnte sie für die darauffolgende Generation bestimmen, die Enkelkinder, für die die Bedeutung eines Malerei-Workshops nur eine Fußnote in der Familiengeschichte war. Sie konnte sie Dave überlassen, auch wenn Elizabeth das nicht getan hatte. Oder sie konnte mit ihnen ein Gedenkfeuer veranstalten.
    Elizabeth hatte sich für keine dieser Möglichkeiten entschieden, sonst hätte sie sie in ihrem Testament festgehalten. Vielleicht hatte sie nicht gewusst, was sie wollte; vielleicht hatte sie nur gewusst, dass sie ihre Tagebücher jemandem anvertrauen wollte, der ein wenig objektiv sein konnte, Abstand zu allem hatte. Vielleicht wollte sie es erst später entscheiden, nur dass es nie ein Später gegeben hatte.
    Die Junisonne hatte geschienen, als sie dieses letzte Mal am Strand spazieren gegangen waren. Elizabeths Hände kneteten angespannt den Seetangstreifen. Es ist wirklich eine seltene Gelegenheit, einen Kurs mit ihm in den Staaten zu machen , hatte sie gesagt. Kate konnte sich gut an das Gespräch erinnern. Der Kursleiter war berühmt für seine Landschaftsmalereien. Er war Mexikaner. Und sein Name war nicht Michael gewesen. Er hieß Jesús.
    Kate betrachtete das Notizbuch auf ihren Knien. Erinnerungen an ihre Zeit in Southbrook lagerten hier, an einfache Jahre im Kreise ernsthafter junger Mütter mit vorhersehbarem Verhalten. Sie ahnte, dass die Lektüre dieser Aufzeichnungen nicht unbedingt zur Ruhe und Ausgeglichenheit beitragen würde, die sie sich von diesem Sommer erhoffte.

Drei
    In Kates mitternächtlicher Vorstellung lief der Absturz so ab: Direkt nach dem Abheben neigt sich das Flugzeug stark. Den überraschten Passagieren stockt kurz der Atem. Ein unnatürlicher Schlenker und eine allzu heftige Gegenlenkung, Ausblicke auf die Stadt steigen in surrealen Winkeln auf. Die Klappen der Gepäckfächer springen auf wie verblüffte Münder, als das Flugzeug hin und her schwankt, dann das Aufheulen versagender Getriebe irgendwo weiter unten. Inmitten der Schreie und des Schreckens, der den Gang herunterrollenden Laptops und Handtaschen, sitzt blass und reglos Elizabeth, in ihrem Sitz erstarrt, als ihr bewusst wird, dass sie ihre Kinder nicht wiedersehen wird.
    Falls sie genug Zeit gehabt hatte, war vermutlich eine Niemals-Parade vor ihren Augen abgelaufen: Geburtstage, Abschlussfeiern, Hochzeiten. Wie ihre Kinder als Erwachsene aussähen in einem Alter, in dem diese sich selbst kaum noch an das Gesicht ihrer Mutter erinnern würden, unsicher, was Erinnerung war und was nur ein Foto.
    Wenn die Erkenntnis nur ein paar Sekunden gedauert hatte, war es wohl eher so verlaufen: Elizabeth greift nach der Armlehne, vielleicht nach der Hand ihres Sitznachbarn. Gebetsfetzen, ein verzweifelter Reflex. Sie ruft die Namen ihrer Kinder, Dave und schließlich nach ihrer eigenen Mutter, wie wir es angeblich alle tun. Ein jäher Schmerz oder eher ein jähes Nichts.
    Diese Gedanken führten Kate stets an denselben Punkt: die Vision ihrer eigenen Kinder allein mit Chris, nachdem ihr etwas zugestoßen ist. Krankheit, Unfall – es war egal, wie es passiert wäre. Der Verlust würde an James und
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