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Wolkentaenzerin

Wolkentaenzerin

Titel: Wolkentaenzerin
Autoren: Nichole Bernier
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groß würden, bevor man sich versah.
    Sie hatte das Gefühl, jemand wäre in der Nähe und beobachtete sie. Sie bekam eine Gänsehaut. Schnell drehte sie sich um, konnte aber auf dem beinahe leeren Parkplatz niemanden entdecken. Nur ein schmaler Grünstreifen mit Bäumen trennte das Motel vom Highway, und der Asphalt vibrierte unter ihren Füßen, wenn ein Lastwagen vorbeirollte. Sie wandte sich wieder zum Auto und dem Notizbuch zu, doch das Gefühl von auf ihr ruhenden Augen blieb, Augen von einem Blau zwischen Kornblume und Saphir. Bitten Sie sie, vorne anzufangen.
    Langsam legte sie das mit dem Foto beklebte Buch zurück in die Truhe – obenauf, wo sie es jederzeit wiederfinden würde – und nahm das unterste Buch vom linken Stapel. Der Einband war mit Aufklebern verschönert, die Art, wie man sie in den Ständern mit den Grußkarten findet: Tulpen, Smileys, Kätzchen. Das Datum auf der ersten Seite war 1976, da war Elizabeth, die ein Jahr älter als Kate gewesen war, nach Kates Rechnung zwölf Jahre alt. Sie zog es heraus und hielt es kurz fest – siehst Du, ich fange hier an . Dann schlug sie es auf und begann zu lesen.
12. April 1976
Liebes Tagebuch,
Dr. Trinker sagt, ich soll anfangen, Tagebuch zu führen, um meine Gedanken aufzuschreiben, und so tun, als würde ich Briefe an meine beste Freundin oder an mich selbst schreiben, und dass es mir dabei helfen wird, zu »verarbeiten« und »weiterzumachen«. Nur um das mal klarzustellen, ich finde, das ist eine beknackte Idee, zu schreiben, um sich besser zu fühlen. Aber als ich heute mit dem Fahrrad an dem Baguette-Laden vorbeigefahren bin, an dem ich mit Anna an ihrem Geburtstag im Februar war, habe ich keine Luft mehr bekommen und musste absteigen und den Kopf zwischen die Knie legen wie bei einem Asthmaanfall. Deswegen probier ich’s jetzt aus. Sie war so stolz darauf, acht geworden zu sein, und total aufgeregt, dass wir mit dem Fahrrad in die Stadt fuhren, ich dachte schon, sie würde platzen, als wir zur Zoohandlung gefahren sind und ich ihr gesagt habe, dass ich ihr einen Fisch als Geschenk kaufe. Sie hat darauf bestanden, dass ich auch einen für mich kaufe, damit ihrer einen Freund im Aquarium hat. Ihrer ist letzte Woche gestorben. War ja klar.
Unterschreibt man auch, wenn man seinem Tagebuch einen Brief schreibt?
Liebe Grüße
Lizzie Drogan
    Kate hörte auf zu lesen, als sie ein Geräusch hörte, ein Rascheln in den Bäumen hinter dem Auto. Der bewaldete Streifen war wie eine Wand aus Schatten. Sie hielt den Atem an, doch alles war ruhig, dann erzitterte der Boden wieder, als sich ein Laster hinter den Bäumen näherte. Die Heckklappe stand noch offen, und Kate wurde bewusst, dass sie genau im Licht stand und von jedem gesehen werden konnte, der von der Interstate abfuhr, von jedem, der um zwei Uhr morgens am Hintereingang eines Motels umherstreifte.
    Sie schloss den Kofferraum, drückte auf den Transponder des Autoschlüssels, und der Schließton zwitscherte. Etwas sauste neben ihren Füßen unter dem Auto hervor. Sie erschrak und sprang zurück, das Tagebuch fiel ihr aus der Hand. Geduckt lief ein dunkles, kleines Tier in Richtung Müllcontainer davon, der gestreifte Schwanz hüpfte dabei wie das Fähnchen an einem Mädchenfahrrad.

    Im Motelzimmer war es dunkel und still, als Kate zurückkam. Sie setzte sich in den Sessel, knipste die Lampe wieder an und betrachtete das Schreibheft in ihren Händen. Sie hatte nie ein Foto von Elizabeth als Kind gesehen, und der freudlose Ton des Tagebucheintrags rief kaum Erinnerungen an sie hervor. Kate versuchte, sie sich als zwölfjähriges Mädchen vorzustellen, das in die Stadt radelt, Aprilsonne auf die Hosenbeine gesprenkelt. Wie es durch die Gänge eines Schreibwarenladens streift, beknackt murmelt, dann mit seiner Auswahl nach Hause fährt und später in einem kleinen Rausch vorpubertärer Begeisterung Kätzchen auf den Buchdeckel klebt. So hatte Elizabeth unter Zwang angefangen, Tagebuch zu schreiben, und daraus war eine Gewohnheit geworden, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten sollte.
15. April 1976
Liebes Tagebuch,
heute hat wieder niemand im Bus mit mir geredet. Ich habe aus dem Fenster gestarrt und versucht, an etwas anderes zu denken, als wir an der Taylor Street und dem kleinen Kreuz am Straßenrand vorbeikamen. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so allein gefühlt. Alle um mich rum sind schon den ganzen Monat über so panisch, als wäre ich giftig. Als ob es ansteckend wär, wenn eine
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