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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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Wand
     anzustarren. Mit einem Finger fuhr er die Linien entlang, ließ ihn über die Gitterstäbe hüpfen und verfolgte die Risse bis
     ans Ende des Betts. Der Gedanke an die vor ihm liegende endlose Zeit war niederschmetternd. Er wusste, dass es bereits dunkel
     sein würde, wenn man ihn wieder aus dem Bett holte. Die anderen Kinder waren unruhig und lagen jammernd in ihren Betten, die
     entlang der Wände aufgestellt waren.
    Er versuchte, das Gejammer der anderen Kinder auszublenden, und konzentrierte sich stattdessen auf den Gedanken an das Abenteuer,
     das er am Vormittag erlebt hatte. Er beschwor das Bild der jungen Frau mit den langen Haaren herauf, wie sie sanft das Baby
     hielt und ihm vorsang. Er sah sie ihm zulächeln und stellte sich vor, dass sie auch ihm vorsang. Erneut fragte er sich, wer
     sie war. Warum war sie nicht gekleidet wie die anderen Betreuerinnen? Warum hatte sie ihn nicht angeschrien oder bestraft,
     weil er seine Gruppe verlassen hatte? Er überlegte hin und her, doch er fand keine Antwort.
    Nachdem er die Szene mehrfach hatte Revue passieren lassen, suchte er nach etwas anderem, an das er denken konnte: die Matrjoschkapuppen
     fielen ihm ein. In seiner Vorstellung spielte er wieder mit ihnen, aber diesmal waren sie nicht kaputt oder rissig, und es
     fehlten auch keine Teile. Er baute sie in einer Reihe auf dem Tisch auf, von der kleinsten, die gerade mal so groß war wie
     sein Daumen, bis zur größten, die so groß war wie Waleria in ihrer Babywippe. Es waren so viele, dass sie gerade noch auf
     den Tisch passten. Sie bildeten eine Mauer auf seiner Seite des Tisches, hinter der er sich vor Andrej verstecken und ihn
     so zum Lachen bringen konnte.
    Dann begann er, die Puppen über den Tisch zu Andrej rollen zu lassen. Aber diesmal hatte der Freund nicht diesen leeren Ausdruck
     auf dem Gesicht, sondern warf sich nach rechts und links, um die Puppen aufzufangen – und zwar alle: die kleinen, die über
     die Tischplatte sausten, ebenso wie die großen, die schwerfällig dahinkullerten. Andrej bekam jede einzelne |23| zu fassen und kugelte sie zurück zu Wanja, der sie wiederum von der Tischkante fallen ließ, sie aber noch rechtzeitig auffing,
     bevor sie auf dem Boden aufschlugen. Und Nastja bekam von alldem nichts mit!
    Für heute bestand keinerlei Hoffnung mehr, dass Nastja ihm noch einmal die Matrjoschkapuppe geben würde. Aber wie sah es morgen
     aus? Morgen war Tanjas Tag. Er war sich nicht ganz sicher, was Tanja anbetraf, aber er könnte sie fragen. Und übermorgen war
     endlich wieder Tante Walentinas Tag. Sie würde ihn ganz sicher mit der Puppe spielen lassen. Das war etwas, worauf man sich
     freuen konnte.
     
    Zwei Tage später saß Wanja an seinem Tisch und sehnte den Dienstbeginn seiner Lieblingsbetreuerin herbei. Tanja hatte ihren
     weißen Kittel bereits ausgezogen und warf einen ungeduldigen Blick auf ihre Uhr. Da ging die Tür auf, und herein kam Tante
     Walentina in ihrem abgetragenen Mantel, in der Hand einen Regenschirm und eine prall gefüllte Plastiktüte.
    Wanja sah Walentina zu, wie sie ihren Mantel aufhängte und in der Plastiktüte zu kramen begann. Sie holte ein mit Papier umwickeltes
     Päckchen daraus hervor und legte es vor ihn auf den Tisch. Wanja zitterten vor Vorfreude die Finger, als er das Butterbrotpapier
     öffnete. Darunter kam eine dicke Scheibe Salami zum Vorschein.
    »Nachher hab ich noch eine Banane für dich«, flüsterte sie ihm zu. Er strahlte.
    »Tante Walentina, du bist meine Lieblingsbetreuerin«, sagte er mit vollem Mund.
    »Iss schön weiter«, sagte sie und ging in den Schlafraum. Als sie zurückkam, hatte sie Kirill auf dem Arm, den Jungen, der
     tagein, tagaus in einem Babyhopser hing. Sie setzte ihn sich auf den Schoß und zog ihn langsam an, erst das T-Shirt und die
     Strumpfhose, dann die Hose und den Pulli. Auf ihrem Gesicht lag ein gedankenverlorener Ausdruck.
    »Tante Walentina, warum bist du heute so traurig?«, fragte Wanja.
    |24| »Kirill wird uns verlassen. Er geht in ein Internat.«
    Wanja hatte dieses Wort schon einmal gehört und wollte wissen, was es bedeutete. »Was ist ein Internat?«, fragte er daher.
     Walentina gab keine Antwort. In diesem Moment flog die Tür auf, und Swetlana kam hereingestürmt, die Frau, die immer Zettel
     in der Hand hatte. Während die beiden Frauen ein paar Worte wechselten, steckte Walentina Kirills Arme in die Ärmel einer
     Jacke, küsste ihn liebevoll auf die Stirn und reichte ihn
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