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Wolkengaenger

Titel: Wolkengaenger
Autoren: Alan Philps , John Lahutsky
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Zigarettenschachtel in der Hand blieb Nastja zögernd stehen und sah sich prüfend im Raum um. Wanja senkte den Blick.
     Vielleicht konnte sie Gedanken lesen und hatte seinen Plan erraten. Was machte sie nur? Warum stand sie da herum? Da lief
     sie auf die Tür zum Nebenzimmer zu. Wanja schlug das Herz bis zum Hals. Sie würde bemerken, dass die Tür nur angelehnt war,
     würde sie schließen, und sein Abenteuer hätte sich erledigt. Zu seiner Erleichterung nahm Nastja nur ihre Tasche vom Haken.
     Wie durch ein Wunder war ihr die offene Tür entgangen. Wanja sah ihr nach, wie sie nach draußen auf den Flur verschwand. Dann
     hörte er, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.
    |18| Nun waren die Kinder sich selbst überlassen – es galt also keine Zeit zu verlieren. Wanja rutschte von seinem Stuhl und landete
     mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Man hatte ihm verboten zu krabbeln: Der Boden sei schmutzig, hatten sie ihm gesagt,
     er könne krank davon werden. Er versuchte nicht daran zu denken, dass Nastja ihn schlagen würde, wenn sie ihn erwischte. Mit
     aller Kraft zog er sich mit den Armen über den glänzenden Boden. Er hatte etwa die Hälfte des Weges geschafft, als er aus
     Richtung der geöffneten Tür hörte, dass jemand sang. Er krabbelte schneller.
    Als er die Tür erreichte, öffnete er sie ein klein wenig weiter, so dass er hineinsehen konnte. Geblendet von der Mittagssonne,
     die durch die Gardine fiel, konnte er lediglich eine große Silhouette, umrahmt von Licht, ausmachen. Er kniff die Augen zusammen.
     Die Silhouette beugte sich nach vorn und verwandelte sich in eine junge Frau, die behutsam ein Baby zurück in ein Kinderbett
     legte. Wie sanft sie mit dem Baby umging, welch grenzenlose Aufmerksamkeit sie ihm schenkte, und dabei sang sie die ganze
     Zeit diese ergreifende Melodie. Sie nahm ein anderes Kind auf den Arm, und Wanja bemerkte, dass sie nicht so angezogen war
     wie die anderen Frauen im Babyhaus. Sie trug keinen dieser weißen Kittel, stattdessen steckten ihre langen Beine in Jeans,
     und ihre Haare waren offen, nicht zurückgebunden.
    Wanja war sprachlos. Mucksmäuschenstill beobachtete er die Szene; auf keinen Fall wollte er den Zauber des Augenblicks zerstören.
     Er wollte sich jedes noch so kleine Detail einprägen, um es sich dann in Erinnerung zurückzurufen, wenn er am Nachmittag in
     seinem Bett liegen würde und nicht schlafen konnte.
    Die junge Frau lief im Zimmer umher, wiegte das Baby in ihren Armen, und plötzlich trafen sich ihre Blicke. Sie hörte nicht
     auf zu singen, sondern lächelte ihm zu. Wanja hatte damit gerechnet, angeschrien und in sein Zimmer zurückgescheucht zu werden,
     doch die Frau sagte kein Wort. Mutig krabbelte er ein Stück weiter in das Babyzimmer. Er wünschte, |19| er könnte hier leben. Alles war so anders: War es am Ende nur ein Traum?, fragte er sich gerade, als er hinter sich eine Stimme
     bellen hörte: »Komm hierher zurück, Wanja. Du hast da drüben nichts zu suchen.« Wanja erkannte Nastjas typische Nach-der-Pause-Stimme.
     Er krabbelte zurück in Gruppe 2. Nastja schloss die Verbindungstür zum Nebenzimmer, packte ihn unter den Achseln, schleifte
     ihn über den Boden und warf ihn ärgerlich auf seinen Stuhl.
    »Tu das nie wieder«, fauchte sie ihm direkt ins Gesicht, sodass er gezwungen war, den ekligen Geruch aus ihrem Mund einzuatmen.
    Es war Zeit für die Mittagsfütterung. Küchenfrauen trugen zwei große Aluminiumtöpfe herein sowie ein Tablett mit einem hohen
     Stoß Schüsseln und Nuckelfläschchen, die mit brauner Suppe gefüllt waren, und stellten alles auf einen Tisch neben der Tür.
     Aus der Ferne suchte Wanja das Tablett ab. Keines der anderen Kinder bekam je Brot, nur seine Lieblingsbetreuerin, Tante Walentina,
     brachte Wanja immer ein großes Stück Schwarzbrot mit, wenn sie Dienst hatte. Heute war zwar Nastjas Tag, und sie hatte ihm
     noch nie Brot gegeben, aber vielleicht hatte der Koch an ihn gedacht und eine Scheibe zwischen die Fläschchen gesteckt.
    Nastja schöpfte zehn Portionen dünne Gemüsesuppe und Kartoffelpüree aus den Töpfen in die Schüsseln. Wanja und Andrej bekamen
     immer als Erste ihr Essen, und sie rechneten jeden Moment mit ihren Tellern. Andrej hatte sogar aufgehört zu schaukeln. Doch
     Nastja wandte sich Wanja zu und zischte ihn an: »So schlecht, wie du dich vorhin benommen hast, kriegst du heute als Letzter.
     Und dein Freund kann auch warten.«
    Niedergeschlagen musste Wanja
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