Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wolfsruf

Titel: Wolfsruf
Autoren: S.P. Somtow
Vom Netzwerk:
Ich dachte an die Zeitungsartikel in meinem Koffer. Die Berichte klangen beinahe zurückhaltend, bis auf ein paar »wahre Geschichten« aus den Boulevardblättern. Man sprach von zweigeteilten Opfern - von Köpfen, die meilenweit von den Körpern entfernt gefunden wurden - von aufgerissenen Körpern - halb aufgefressenen Lebern, angenagten Herzen. »Jonas Kay.«
    »Jonas ist seit Jahren nicht mehr aufgetaucht, Carrie. Wir sind dabei, die gespaltene Persönlichkeit unseres armen Freundes wieder zusammenzuschmieden. Und eine dieser Persönlichkeiten hat sich als Zentrum herauskristallisiert, das alle anderen Persönlichkeiten nacheinander in sich aufnimmt. Wir bezeichnen diesen Prozess als ›Fusion‹, und wenn er vollendet ist, wird unser Freund Johnny Kindred und niemand sonst sein.«
    »Wie ist Johnny Kindred?«, fragte ich.
    »Er ist ein achtjähriger Junge. Der Körper des Patienten verändert sich natürlich nicht. Aber Johnny Kindred ist acht Jahre alt, gerade so wie James Karney … nun, so alt ist, wie er eben ist. Sie werden Johnny lieben. Er ist charmant, freundlich, fröhlich. Sie werden ihm bald begegnen. Heute Abend vielleicht. Würde Ihnen das gefallen?«
    »Ausgezeichnet«, sagte ich.
    Der Ober räumte unsere Teller ab und brachte Kaffee. Alle drei starrten mich an: der Ober, der steif neben mir stand, aus dem Augenwinkel; Dr. La Loge mit fast wissenschaftlicher
Neugier; und Preston Grumiaux mit einer Intensität, die fast einen sexuellen Akt anzukündigen schien.
    Preston brach als Erster das Schweigen. »Machen Sie schon, Sterling. Ein Spaß in allen Ehren, aber die Spannung bringt mich fast um. Verraten Sie’s ihr.«
    »Was denn?«, fragte ich beunruhigt. Ich verschüttete Kaffee auf dem Tisch. Der Ober zückte sein Handtuch. »Verzeihen Sie meine Nervosität«, sagte ich. »Aber die lange Fahrt und …«
    Ich schaute zu, wie der Ober mit knappen, mechanischen Bewegungen den Tisch abwischte. Ich starrte auf seine Hände. Ich musste über mich selbst lachen, weil ich gedacht hatte, sie wären fellbedeckt. Er war einfach stark behaart, das war alles. Silberne Haare ragten aus seinen Ärmeln.
    »Schon gut«, beschwichtigte Sterling La Loge. Ich erwartete eine dramatische Eröffnung, aber stattdessen sagte er einfach: »Sie können ihn fragen, was Sie wollen, aber ich muss auf einer Bedingung bestehen …«
    »Höchste Vertraulichkeit natürlich«, ergänzte ich und versuchte, dabei möglichst professionell zu klingen.
    »O nein, das meine ich nicht. Ich meine …«
    Ich wartete.
    »Ich meine«, sagte er zögernd, »glauben Sie, Sie könnten mir eine Statistenrolle in dem Film verschaffen?« Er begann zu kichern. Bevor ich antworten konnte, fragte er: »Und auch eine für James?«
    Ich musterte den Ober, der jetzt wieder steif hinter den beiden stand. Er hatte ein schroffes Gesicht; eine Winzigkeit fehlte zu einem gealterten Byron. Seine wilde, weiße Mähne stand in allen Richtungen vom Kopf ab. »Er ist jedenfalls ein bunter Charakter«, sagte ich. Der Ober schenkte mir einen hochnäsigen Blick.
    »Ja … ich sehe es schon vor mir«, sagte La Loge. »Hitchcock, glauben Sie nicht? Mit Sterling La Loge und James Karney. Was halten Sie davon, James?«

    Alle drei schauten mich erwartungsvoll an. Ich hatte den Eindruck, sie machten sich über mich lustig, obwohl ihre Gesichter keine Regung verrieten. Mit wachsender Verwirrung blickte ich von einem zum anderen. Sie halten mich für eine dumme Gans, dachte ich wutentbrannt. Der Teufel soll sie holen! Ich hätte fast vor Frustration losgeheult, als Preston die Gewalt über sich verlor und laut loslachte. »Begreifst du denn nicht?«, meckerte er. »James Karney? J. K. … J. K. …«
    Ich schaute dem Ober direkt in die Augen und sah -
    »Nein«, flüsterte ich. »Nein!« James Karney - Johnny Kindred - Jonas Kay - es war nicht möglich.
    »Sie scheinen erregt zu sein, Mrs Dupré«, sagte der Ober ungerührt. »Vielleicht sollte ich Madam auf Ihr Zimmer bringen?«
    »Was? Ich allein mit dem …« Ich stand auf.
    »Allein mit dem Killer von Laramie?«, ergänzte der Ober. Seine Augen strahlten vornehme Melancholie aus. »Aber nein, Madam … das war ein anderer Mensch … und vor langer Zeit. So grässliche Verbrechen! Sich vorzustellen, dass manche Menschen glauben, ich könnte … Ich bin nur ein dummer, harmloser alter Mann, Mrs Dupré.« Er kam zu mir herüber und legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich könnte keiner Menschenseele etwas zuleide tun.«
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher